Wer in Cham vorbeischaut, will wissen, was dort entwickelt wird, und möchte eine Ahnung bekommen, was in drei Jahren angesagt ist. Dazu später. Erst mal ein Blick zurück. Specialized stieg spät ins E-Bike-Geschäft ein. Noch 2008 sagte Mountainbike-Urgestein und Firmen-CEO Mike Sinyard: «Pedelecs are not our business.»
Doch weil in den folgenden Jahren so gut wie alle führenden Hersteller ins Stromgeschäft einstiegen, änderte der Boss seine Meinung. Im zentralschweizerischen Cham wurde in aller Stille mit einem hochkarätigen Team an der Entwicklung eines E-Bikes gearbeitet.
2012 folgte der pompöse Launch des ersten Modells «Turbo S». Noch da relativierte Sinyard: «We are not late, but early with the right product.» Damit hatte er teilweise recht: Das «Turbo S» war das erste vollintegrierte E-Bike; der GoSwissdrive-Heckmotor erfüllte seinen Zweck für diesen schnellen Stadtflitzer damals prima.
Lorbeeren konnte sich eine imageträchtige Marke damals aber vor allem mit E-Mountainbikes holen. 2015 erschien das erste «Levo» von Specialized, das mit seinen Leistungsmerkmalen den Benchmark setzte.
Sieben Jahre an der Lorze
Seit 2016 logiert die Specialized Europe GmbH mit dem «Cham Innovation Centre» in der alten Papierfabrik an der Lorze, die mit ihrem industriellen Flair Platz für kreative Ambiance lässt. Hier erfolgt die weltweite Elektro-Entwicklung, zudem Verkauf und Distribution (ohne die DACH-Regionen) und zum andern Verkauf und Distribution der Region EMEA = Europe (ohne DACH)/Middle East/Africa; deren Arbeitsplätze wurden ab 2021 mehrheitlich nach Hünenberg verlegt.
Seit 2019 gibt es auch einen zweiten Motor für Leicht-E-Bikes, der ebenfalls in Cham entwickelt und bei Mahle hergestellt wird. Doch warum bestückte Specialized als einer der Innovationstreiber diese Produktelinie nicht gleich mit einem eigenen Antrieb? «Das ist ein Specialized-Motor, made by Brose», korrigiert Produktmanager Marco Sonderegger dezidiert. Und weiter: «Wir entwickeln die Software, teilweise aber auch die Hardware selber.»
Damit haben die Entwickler die volle «Macht übers System» in eigenen Händen – auch über Batterie, Kabelbäume, Display und die Bordkommunikation, so Sonderegger. Über eine App können Endkunden wie bei Bosch und Shimano das System bedienen.
Bedeutendste E-Bike-Entwicklungsstätte der Schweiz
68 Angestellte aus 13 Ländern arbeiten im Cham Innovation Centre. In der Mehrzahl sind das Konstruktions- und Elektroingenieure, Industriedesignerinnen und Softwareentwickler. Etliche Fachkräfte kämen aus der Automobilbranche und hätten ein persönliches Interesse an neuen Mobilitätsformen, erklärt Sonderegger.
So kann Cham unabhängig von der US-Zentrale operieren, es bestehe aber eine Koordination mit der Rahmenentwicklung drüben. Besitzer Mike Sinyard habe Cham stets alle Freiheiten gelassen und schaue als nicht mehr operativer Chef gelegentlich noch vorbei.
Das Cham Innovation Centre ist die bedeutendste E-Bike-Entwicklungsstätte der Schweiz, grösser als Flyer/FIT und Stromer; es dürfte selbst global eines der führenden Zentren sein. Mit dem jüngsten strategischen Entscheid von Specialized, weltweit acht Prozent der Mitarbeiter zu entlassen, um besser zu fokussieren, musste zwar auch die Schweiz einige Federn lassen und sich von einer Handvoll Mitarbeitern in Cham und Hünenberg trennen.
Dennoch soll in den nächsten Jahren in Hünenberg ein eigener gemeinsamer Campus errichtet werden. Weil die Abstimmung über die Umzonung verschoben werden musste, wurde der Baubeginn allerdings verzögert.
Und wohin soll die Elektro-Reise gehen – wer in Cham den Kopf reinstreckt, der wird doch eine Ahnung davon bekommen, was in drei Jahren angesagt ist? Denkste – natürlich waren bei unserem Besuch die Erlkönige tunlichst weggesperrt worden. Immerhin lässt sich Marco Sonderegger entlocken, dass Kinder-E-Bikes vermehrt ein Thema werden könnten.
