Kleines Bestiarium

Wer übers Land fährt, hört Kühe muhen, Hunde bellen, Schafe blöken, Hühner gackern und Vögel singen. Was aber denken die Tiere bloss über die radelnden Passanten?

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Dres Balmer
26.06.2019

Erfüllen die atmosphärischen Verhältnisse den Luxusgeschmack der Radlerherrschaften nicht vollständig, ist man oft allein auf zwei Rädern unterwegs. Längst verschwunden sind über Land auch die Fussgängerinnen und Fussgänger, die sich auf zwei Beinen bewegen. Die einzigen anderen Menschen sausen eingekapselt in ihren Autos vorbei, sind hinter getönten Scheiben kaum erkennbar. Da ist niemand, dem man «Guten Tag» zurufen, da ist keiner, der «Frohe Fahrt» wünschen könnte. Die Menschenleere auf perfektem Asphalt hat etwas Gespenstisches, macht das Radeln zu einem einsamen Geschäft.

Zum Glück gibt es links und rechts der Strasse Tiere. Die stehen oder liegen wetterfest draussen, ihre zuverlässige Anwesenheit ist Balsam für die Zyklistenseele. Der Velofahrer ist eingepackt, je nach Jahreszeit und Wetter in drei bis sieben Schichten, um seinen Weicheier-Luxuskörper vor der Natur zu schützen. Die Tiere haben zum Schutz nichts als ihre Haut, ihr Fell, ihre Federn, draussen, Tag und Nacht, bei Wind, Kälte oder Hitze blicken sie ruhig in die Welt um sie herum. Schon nur das elementare, nackte Ausgesetztsein dieser Lebewesen ruft so viel Respekt, ja Bewunderung hervor, dass der Radler den Kontakt sucht.

Weil der Fahrer oft dieselbe Runde macht, weiss er im Voraus, auf welcher Wiese er die schwarz-weisse Katze erblicken wird. Und dort ist sie auch heute unterwegs. Er ruft ihr laut «Miaumiau» zu. Sie hält inne, schaut zur Strasse, duckt sich im selben Augenblick wie zur Verteidigung nieder, dreht ihren Kopf so langsam, wie sie seine Bewegung beobachtet. Ähnlich verhalten sich Kühe, Rinder und Kälber. Grüsst der Radler sie mit «Grüezi Chueli», unterbrechen sie das Grasfressen, schauen ihm neugierig nach. Dieser hat für jede Tierart einen angemessenen Gruss. Bellt ein Hund dem Vorüberfahrenden nach, antwortet dieser mit einem Pfiff. Auf den freundlichen Gruss «Salü Bänze» reagieren die Schafe, indem sie überstürzt wegrennen. Ruhig sind die Pferde. Schnalzt der Radler ihnen zu, bewegen sie zwar ein wenig die Ohren, ohne aber ihren Krautfrass zu unter­brechen, und der Velomensch ist ob so wenig Respekt pikiert. Radelt er an Eseln vorbei, grüsst er sie mit «Guten Tag, meine Brüder», doch diese stoischen Esel ­wackeln nicht einmal mit den Ohren.

Die treusten Tiere sind die Vögel, vor allem die mit einer gewissen Flügelspannweite. In den Anden erleben wir täglich, dass dieselben Vögel zweihundert Meter über uns, ohne Flügelschlag die Thermik ausnützend, weite Runden segeln und so stundenlang mitreisen. Zuerst begeistert uns das, nach der vierten Stunde wird uns etwas mulmig. Über uns kreisen nämlich hungrige Aasgeier, die nur darauf warten, dass wir eingehen. Wir bemühen uns, diese Warterei nicht zu belohnen. Das Gegenteil tritt ein: Ausgerechnet die Aasgeier wecken den Überlebenswillen, und so radeln wir tapfer weiter.