Einzelhaft am Bildschirm

Die Digitalisierung hat sich auch im Velovolk ausgebreitet, und sie bringt unsere zyklistische Freiheit an den Rand des Abgrunds. Doch da meldet sich Widerspruch.

Dres Balmer, Autor

Dres Balmer, Autor (dres.balmer@bluewin.ch)
Kommentar, 15.09.2023

Wenn ich auf Radtour durch Deutschland einen Menschen an der Strasse nach dem Weg frage, lautet die meist abschätzige Gegenfrage: «Haben Sie kein Navi?» So eines habe ich nicht, weil ich mir auf Reisen gerne von leibhaftigen Menschen sagen lasse, wie ich auf meiner Route vorankomme.

Derartige Praxis wird immer einsamer. Die meisten radelnden Damen und Herren haben heute auf dem Lenker mindestens ein Bildschirmgerät festgeschraubt, das ihnen allerlei geografische, physikalische, körperliche Leistungsdaten wie Trittfrequenz, Watt, Puls und verbrauchte Kalorien sendet.

«Haben Sie kein Navi?»

Den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung erreicht der Velo­freund, der auf seinem Apparat ablesen kann, wie viele Meter hinter ihm ein Fahrzeug folgt, als ob er nicht Ohren und Augen hätte. Er könnte ebenso gut mit einem Subaru oder Suzuki durch die Gegend fahren, welcher dem eingekapselten Autohäftling, der nicht in den Rückspiegel blicken kann, die überraschende Mitteilung liefert, dass da auf der Strasse tatsächlich noch andere Fahrzeuge unterwegs sind, sie ihm auf dem Bildschirm zeigt und bei zwanzig Metern Annäherung piepst.

Dass die elektronisierte Autofahrerei vernünftiges Augenmass beschädigt, ist bekannt, dass diese Versklavung nun aber auch auf die Kleine Königin, das Vehikel der Freiheit schlechthin, übergreift, ist ein Ärgernis.

Wenn ich zu Fuss in der Stadt unterwegs bin, schreite ich durch das wabernde Gewölk von Individuen ringsum, deren Augen auf das Bildschirmchen glotzen, deren Ohren verstöpselt sind. Ich lebe in einem Volk von Handy-Zombies.

Dieser normale Irrwitz hat längst auch das Velovolk im Griff. Kürzlich hat ein anderer Velo­freund beim pedalierenden Handyglotzen eine Passantin auf dem Fussgängerstreifen über den Haufen gefahren. Da stosse ich im TA-Magazin vom 8. Dezember 2018 auf eine Geschichte von Christof Gertsch über die Triathletin Daniela Ryf: «Sie weiss nicht, wie viele Watt sie tritt oder wie hoch ihr Puls ist, im Gegensatz zu anderen Athletinnen pfeift sie auf die Leistungsdaten, die heute überall erfasst werden.»

«Dass die elektronisierte Autofahrerei vernünftiges Augenmass beschädigt, ist bekannt, dass diese Versklavung nun aber auch auf die Kleine Königin, das Vehikel der Freiheit schlechthin, übergreift, ist ein Ärgernis.»

Dann zitiert er Ryf: «Wie soll ich mich trauen, über mich hinauszuwachsen, wenn der Radcomputer mir ständig vor Augen führt, dass ich tatsächlich über meinem Limit bin?» Wenn eine Athletin der weltweiten Spitzenklasse so etwas sagt, weckt das Hoffnung.

Seit zehn Jahren erlebe ich auf Reisen auch das Phänomen der Geisterhotels. Das sind Herbergen, zu denen ich mich irgendwie durchgeschlagen habe und dort dann vor deren verschlossenen Tür stehe. Da hängt ein Schild, das mir die Telefonnummer des Wirts mitteilt, die ich, der Gast, anrufen soll. Dieses Telefonat verweigere ich und streiche in der Nachbarschaft herum. Meistens finde ich in der nächsten Kneipe den Menschen, der den Geisterwirt kennt und anruft. Eine Stunde später ist der Wirt da. Leibhaftig.