Die Kraft der maginären Lösung

Wie ein absurder Entwurf von Physik Velofahrende zu ungeahnter Leistung antreiben kann. 

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Dres Balmer
14.11.2019

Der französische Dichter Alfred Jarry (1873–1907) wird berühmt, als sein Thea­terstück «König Ubu» 1896 in Paris einen Skandal auslöst. Jarry ist aber auch der Erfinder der ’Pataphysik, einer irrwitzigen Überhöhung von Physik und Metaphysik. Die ’Pataphysik bringt bis heute viel Tinte zum Fliessen, post-’pataphysische Literatur füllt ganze Regale.

Was ’Pataphysik eigentlich ist? Nun, da hilft uns Jarry selber weiter: «’Pataphysik ist die Suche nach der imaginären Lösung.» Warum spricht solch träumerische Poesie gerade Zyklophile an? Erstens ist Jarry zur Blütezeit des Fahrrads um 1900 selber ein Velosüchtiger, und zweitens ist Radfahren eines seiner literarischen Themen.

Im Text «Die Passion als Bergrennen» (1903) überträgt er die Mühen der Radler am Berg auf die Leidensgeschichte Christi, im Roman «Der Übermann» (1902) schickt er eine Mannschaft auf einem sechssitzigen Tandem an den Start zum wahnsinnigen Rennen gegen einen Hochgeschwindigkeitszug. Die Tandemfahrer finden die imaginäre Lösung, indem sie gewinnen.

Imaginäre Lösung? Das befeuert die zyklistische Einbildung und Fantasie ungemein, spirituell und materiell. Zum Beispiel so: Bis zum Zweiten Weltkrieg waren die Etappen der Tour de France und des Giro d’Italia oft über 300 Kilometer lang. Die «Strafgefangenen der Landstrasse» (Albert Londres) starteten im Morgengrauen mit schlechtem Material auf grässlichen Strassen und kamen bei finsterer Nacht ans Ziel.

Schlägt man heute den Freundinnen und Freunden eine gemeinsame Tagestour von 250 Kilometern auf Luxusstrassen in zwölf Stunden vor, sagen manche: «So weit bin ich noch nie gefahren, aber ich will es versuchen.» Am Ziel erleben sie die ’pataphysische Erleuchtung. Wichtig ist dabei, dass die Gruppe unterwegs zusammenbleibt und arbeitet, während bei den Profirennen ein Drittel des Feldes abgehängt wird.

Mit dem Velo eigene vermeintliche Grenzen zu sprengen und so die eingebildete Lösung zu finden, das ist die spirituelle Seite ’pataphysischen Tuns. 

Oder so: Im offiziellen Begleittross der Tour de France rollen pro Rennfahrer ein Dutzend Motorfahrzeuge mit, rund 2400 Autos und Töffs. Die Begleiterscheinungen sind also mächtiger als der Sport selbst, die Fernsehübertragung schafft es, die wahren Proportionen ins Gegenteil zu verdrehen.

Etwas Ähnliches geschieht beim Freizeitradeln: Fahre ich über einen Pass, sehe ich zehn Damen und Herren, die kurbeln, in derselben Zeit werden hundert Velos auf Autodächern an mir vorbeigekarrt. Fazit: Landläufiges Velofahren, im Berufs- wie im Freizeitsport, ist mehrheitlich etwas Mittelbares.

Wer sich auf das blosse Velo setzt und ohne Begleitfahrzeug und übrigen Gerümpel einfach loszieht, wagt minimalistisch das Unmittelbare, und das ist ’pataphysischer Widerstand gegen die allenthalben tobende Materialschlacht.