Von Andorra bis nach Strassburg – Auf den Rausch folgte die Leere

Das späte Doping-Geständniss von Jan Ullrich und die Amazon-Doku haben ein breites Medienecho ausgelöst. Dies und dessen 50. Geburtstag werfen beim Fan grundsätzliche Fragen zum Radrennsport auf.

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Daniel Lemmer*
Blog, 15.12.2023

Im Rausch der Begeisterung öffnet sich das Tor zu den eigenen Gefühlen. Für einen Augenblick wird sichtbar, was die eigene Welt im Innersten zusammenhält. Man fühlt sich in der Welt zu Hause.

Doch mit einem Schlag ist alles zu Ende. Ohne jede Vorwarnung. Wo eine Zeitlang alles war, ist auf einmal nichts mehr. Der innere Vorhang fällt und zurück bleibt eine tiefe Leere.

Es ist die Art Leere, in der man erst mit etwas Abstand die Chance erkennen wird, das Loch in seiner Seele von innen statt von aussen zu füllen.

Per Zufall zum Fan geworden

Andorra Arcalis und Strassburg – Stationen, die Radsportliebhaber mit dem Aufstieg und Untergang eines Helden verbinden. Für Jan Ullrich selbst markieren sie den Weg aus himmlischen Höhen in höllische Tiefen.

Dass es so gekommen ist, lag nicht zuletzt an jenem verhängnisvollen Radsport-Fieber, das im Sommer 1997 von Andorra Arcalis aus um sich griff. Mich selbst ereilte dieses Fieber erst drei Tage nach Ullrichs legendärem Pyrenäenritt. Genaugenommen war es an einem verregneten Nachmittag, als ich dank meines Grossvaters sah, wie ein junger deutscher Radfahrer mit Sommersprossen und Radkappe im gelben Tricot von der Startrampe rollte und im darauffolgenden Kampf gegen die Uhr die komplette Radsportwelt in Staunen versetzte. Cinq, quatre, trois, deux, un, – c’est parti!

«Das Wunderkind Ullrich menschlich, all zu menschlich. Dopingsperren, Eskapaden, Verletzungen, Stürze, Übergewicht und nicht zuletzt ein gewisser Lance Armstrong standen dem Hoffnungsträger der ganzen Nation immer wieder im Weg.»

Von diesem Augenblick an sollte es kaum etwas Wichtigeres in meinem Leben geben, als Jan Ullrich und die Tour de France. Wie viele andere wurde ich erfasst von Ullrichs Magie des Vollkommenen. Eine derart kraftvolle und zugleich ästhetische Verbindung zwischen Mensch und Fahrrad schien einzigartig.

Mit den Worten Nietzsches könnte man festhalten, dass wir hier «dem Künstler in das Netz» gelaufen sind. In der Gewohnheit, «bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen», liessen wir uns vom schieren Anblick dieses anmutigen Radfahrers verzaubern. Dabei konnten wir nur getäuscht werden.

Die Herrlichkeit verblasst

So trug mich die Faszination für dieses Radsportgenie Jahr für Jahr durch die gähnende Sommerleere. Der Eindruck des Vollkommenen sollte dabei leider nicht allzu lange bestehen bleiben. Die Herrlichkeit des genialen Jahres 1997 verblasste mit der Zeit.

Das Wunderkind Ullrich menschlich, all zu menschlich. Dopingsperren, Eskapaden, Verletzungen, Stürze, Übergewicht und nicht zuletzt ein gewisser Lance Armstrong standen dem Hoffnungsträger der ganzen Nation immer wieder im Weg.

Es zog ein Schatten über Ullrichs Karriere. Und trotzdem liess ich mich immer wieder berauschen von der Sehnsucht, mein Idol noch einmal in Gelb zu sehen. Die Tour 1997 als Urerfahrung dieser Glückseligkeit weckte ein Verlangen nach mehr.

In all den Jahren versprach ich mir von diesem medienscheuen Radfahrer im Grunde nichts Geringeres als Erlösung. Die wiederkehrende Hoffnung, eine vom sinnentleerten Alltag erkaltete Seele erwärmen zu können, konnte im besten Fall aber nur zeitweise erfüllt werden.

Die imaginäre Verschmelzung mit dem Anderen kann nicht ewig aufrechterhalten werden. Früher oder später wird man auf sich selbst zurückgeworfen. Im berauschten Zustand merkt man davon freilich nichts.

Jubel, Bangen, tiefer Fall

Neun Jahre lang jubelte, weinte, hoffte und bangte ich schliesslich an der Seite unzähliger Ullrich- Fanatiker – bis ausgerechnet im Juni 2006 alles ein jähes Ende nahm. Mitten in Deutschlands «Sommermärchen» platzte eine ganz und gar nicht märchenhafte Geschichte.

In Strassburg implodierte mein Radsport-Kosmos. Vor dem Tourstart 2006 wird Ullrich gesperrt. Von jetzt an war er einfach raus. Für immer. Nie wieder Jan Ullrich bei der Tour de France? Es herrschte Fassungslosigkeit. Der Boden schien sich nicht nur unter den Füssen des Betroffenen zu öffnen.

«Das Glück ist keine leichte Sache: es ist sehr schwierig, es in uns selbst, und unmöglich, es anderswo zu finden.»

Hatte Ullrich doch als Projektionsfläche für meine tiefsten Sehnsüchte und Wünsche gedient. Mehr oder weniger alleine stand ich nun da und war gezwungen, diese Leere auszuhalten. Viel schwerer als die Enttäuschung über einen Sport, der offensichtlich ganz anders war, als ich es mir selbst immer einredete, wog dabei der Verlust eines Kindheitshelden. Ohne Ulle und die Tour fiel ich in die metaphysische Obdachlosigkeit.

Läuterung

Nach dem schmerzhaften Verlust im Sommer 2006 begann ich allmählich zu begreifen, dass die erwähnte Erlösung niemals von aussen zu erwarten ist – am allerwenigsten von einem Radsportler, der unter dem Einfluss der verzückenden Bilder zu einer übermenschlichen Figur idealisiert wurde.

Das Bild des jungen Radfahrers mit Sommersprossen und Radkappe werde ich dennoch nie vergessen. Trotz aller Irrungen und Wirrungen, die sich unter der malerischen Oberfläche verbergen, steht es stellvertretend für eine Intensität in der Erfahrung, die mich lehrte, dass es im Leben wohl nichts Kraftvolleres gibt als die Begeisterung. Bloss kommt es darauf an, wo sich das Zentrum dieser Begeisterung befindet, denn wie der Aufklärer Nicolas Chamfort einst sagte: «Das Glück ist keine leichte Sache: es ist sehr schwierig, es in uns selbst, und unmöglich, es anderswo zu finden.»

Mehr als 26 Jahre später sage ich: Danke und alles Gute, Jan Ullrich!

Seit Ende November läuft auf Amazon Prime Video die Dokumentation «Jan Ullrich – Der Gejagte». Die vierteilige Serie thematisiert den kometenhaften Aufstieg und den tiefen Fall von Jan Ullrich.

*Daniel Lemmer (36) ist Gymnasiallehrer an einer Gesamtschule in Marburg (Hessen).

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