Wie er Eddy Merckx bezwang

In seinem ersten buchfüllenden Comic lässt Marc Locatelli die goldenen Zeiten der Bahnrennen im Zürcher Hallenstadion aufleben. Mit präziser Feder und viel Humor nimmt er die Leser mit auf eine Zeitreise – und erzählt eine ganz persönliche Geschichte.

Fabian Baumann, Redaktor (fabian.baumann@velojournal.ch)
19.09.2019

Mit 24 erlebt Marc «Loki» Locatelli einen Höhepunkt seiner Karriere als Velorennfahrer. Im Februar 1978 tritt er als Lückenfüller beim Blauen Band von Zürich im Hallenstadion an. Am Start stehen alle grossen Namen des Radsports. Kann sich der junge Zürcher Elitefahrer gegen seine Idole beweisen?

Dicke Schneeflocken fallen vom grauen Himmel, als Marc Locatelli am Freitagabend das Haus verlässt. Wir schreiben den 10. Februar 1978. Loki, wie ihn seine Freunde nennen, schultert sein Bahnrad und macht sich auf den Weg ins Zürcher Hallenstadion – auf dem Velo, versteht sich.

Er darf am Blauen Band von Zürich starten. Es gilt als eines der ältesten Bahnrennen Europas und wird seit 1941 auf dem 250 Meter langen Bahnoval des Hallenstadions ausgetragen. Gefahren wird während 30 Minuten. Gewonnen hat, wer in dieser Zeit die meisten Runden fährt und die Ziellinie als Erster überquert.

Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang.«Loki» (2. von rechts) klebt am Hinterrad von Eddy Merckx. 

Loki ist nervös. Heute Abend sind die aktuellen Superstars des Radsports in Zürich. Aus Belgien sind der «Kannibale» Eddy Merckx und Patrick Sercu angereist. Aus Deutschland Gregor Braun und Dietrich «Didi» Thurau. Aus Italien Francesco Moser und Felice Gimondi. Und mit Daniel Gisiger, René Savary und Albert Zweifel sind im Fahrerfeld auch starke Schweizer vertreten.

Locatellis Nervosität wird umso grösser, als er sieht, dass viele Fahrer die Übersetzung ihrer Bahnräder wechseln: 50 × 14! Damals eine enorme Übersetzung, die zum Fahren sehr starke Beine erfordert. Doch unser Radsportheld hat keinen so starken Antritt. Dafür vermag er eine hohe Kadenz auf die Pedale zu bringen. Und so steht er schliesslich am Start, ohne etwas an der Übersetzung seines Bahnvelos geändert zu haben.

Das Rennen wird für Marc Locatelli zum Erfolg. Seine Strategie, sich ans Hinterrad von Felice Gimondi zu hängen, geht voll auf. Im Windschatten hält der junge Rennfahrer mit einer Ausreissergruppe um den Italiener mit. Zusammen realisieren sie einen Rundengewinn.

Und am Ende des Rennens übersprintet «Loki» sogar sein grosses Idol Merckx. Als er dann aber am nächsten Tag im «Sport» die offizielle Rangliste sieht, erlebt er einen herben Rückschlag.

Viel Herzblut

Zwei Jahre Arbeit investierte Locatelli in die Geschichte. Begleitet hat sie ihn fast vier Jahrzehnte lang. Er habe immer wieder daran gearbeitet, einzelne Episoden gezeichnet, Erlebnisse als Skizzen zu Papier gebracht, sagt der Zeichner zu Velojournal.

Dass er das Projekt schliesslich umsetzte, hat verschiedene Gründe. Zum einen war da der Edition-Moderne-Herausgeber David Balser, der sich von der Geschichte angetan zeigte und ihm zusicherte, den Comic in seinem Verlag zu veröffentlichen. Zum anderen erbte der Zeichner Geld von seinem Vater.

«An Weihnachten vor zwei Jahren habe ich mit mir ausgemacht, das Geerbte für den Comic einzusetzen», sagt Locatelli. Und so widmete der Illustrator die letzten zwei Jahre seines Berufslebens – seit Januar ist er pensioniert – «seiner Geschichte».

Im Wissen, dass sich seine Arbeit und sein eigener finanzieller Einsatz kaum werden decken lassen. Doch das Geld stand beim Comic auch nicht im Vordergrund. Die Geschichte ist ihm eine Herzensangelegenheit.

Hallenstadion ZürichMarc Locatelli hat in seinem Comic die Hallenstadion-Atmosphäre eingefangen.

Gelungene Zeitreise

Dem Zeichner gelingt es im Comic, die rauchgeschwängerte Atmosphäre des Hallenstadions aufleben zu lassen. Beim Betrachten der Seiten glaubt man sich mitten im Getümmel, das Bier in der einen, die Bratwurst in der anderen Hand.

Das Vermitteln dieser einmaligen Atmosphäre sei ihm wichtig gewesen, erzählt Marc Locatelli. «Es war aber auch sehr schwierig.» Jahrzehntelang hat der Zeichner Hallenstadion- und Sechstagerennenluft geschnuppert und keine Veranstaltung verpasst. Dadurch habe ihm der nötige Abstand gefehlt. Bei der Umsetzung standen Locatelli der «Tages-Anzeiger»-Karikaturist Felix Schaad und David Basler beratend zur Seite. Beide hätten ihm wertvolle Tipps gegeben.

Und so schmieden wir beim Lesen des Comics mit dem 24-jährigen «Loki» Pläne, sehen Bahnzirkus und Atmosphäre mit seinen Augen und leiden beim kräftezehrenden Rennen auf dem Holzoval. Wir schmunzeln über seine Erlebnisse, freuen uns, wenn er sein Idol bezwingt und sind traurig über die Niederlage, die er trotz allem erlebte.

Marc Locatelli: «Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang», Edition Moderne 2019, 48 Seiten, Hardcover, Fr. 29.80.

Bilder: Marc Locatelli