Weg mit dem Korsett

Wie wichtig war das Velo für die Befreiung der Frau? Velojournal geht anlässlich des internationalen Tags der Frau auf Spurensuche.

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Esther Banz
Schwerpunkt, 08.03.2021

Sie heisst Cholarist Schneider und ist bereits stattliche 48 Jahre alt, als sie es 1883 wagt, zusammen mit ihrem Mann ein Rad zu besteigen. Es ist ein aus England stammendes Dreirad mit zwei Sitzen. Schneider und ihr Gatte leben im deutschen Neisse (heute Nysa in Polen), sind wohlhabend und ganz bestimmt aufgeschlossen und abenteuerlustig.

Die frühe Radfahrerin hält schriftlich fest, was sie auf ihrem ersten Ausflug mit dem Stahlpferd erlebt: «Eine Frau auf dem Rade! Grinsend standen sie da in Stadt und Land, sahen mir nach, und höhnische Redensarten, gemeine Schimpfworte, wenn nichts Schlimmeres, trafen mein Ohr und liessen mich trotz meines Alters vor Scham erröten. Die Kutscher schlugen mit der Peitsche nach mir und trafen leider oft genug, und die Kinder hatten, von den Grossen angestiftet, ganze Batterien von Schmutzklumpen angehäuft, um mich damit möglichst gründlich bombardieren zu können. Meine Verwandten sagten mir Fehde an, wenn ich das Radeln nicht liesse. Ich verzichtete auf den Verkehr mit ihnen und blieb meinem Rade treu.»

Aufbruch ins selbstbestimmte Leben

Nur wenige Frauen, «mehr oder minder provokative Aussenseiterinnen», hätten sich zu jener Zeit auf ein Rad getraut, schreibt der Historiker Rüdiger Rabenstein, der untersucht hat, wie der Radsport in seinen Anfängen von Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Gesellschaft betroffen (gemacht) hat und diese auch veränderte. Für ihn sind die radelnden Frauen dieser Zeit aber nicht nur angefeindete Exotinnen, sondern Wegbereiterinnen der Emanzipation. Er schreibt: «Für das emanzipatorische Bemühen der Frauen spielt ihr Auftreten als Radfahrerinnen im öffentlichen Verkehr die bedeutendste Rolle.» Er untersuchte die Entwicklung des Damen-Fahrradfahrens vor allem in Deutschland, wo sie später begonnen habe als in England und Frankreich, und teilt sie in vier Phasen ein, die erste etwa 1893 beginnend – also erst zehn Jahre nachdem Cholarist Schneider mit ihrem Mann erstmals auf Spritztour gewesen war.

In jener Zeit genoss die Frau kaum Rechte. Ihre Rolle war die der gebärenden und dienenden Gattin. Weder war ihrem Körper die Freiheit gegönnt, sich in seiner natürlichen Form zu zeigen – dafür sorgte das Korsett –, noch durfte sie als junge Frau unbeobachtet einen Mann treffen. Der Schriftsteller Stefan Zweig hielt seine Erinnerungen an die Jugendjahre in der damaligen Zeit beispielsweise so fest: «Dass etwa ein paar junge Leute gleichen Standes, aber verschiedenen Geschlechtes, unbewacht einen Ausflug hätten unternehmen dürfen, war völlig undenkbar (…). Ein solches Zusammensein wurde höchstens zulässig, wenn irgendwelche Aufsichtspersonen, Mütter oder Gouvernanten, die jungen Leute Schritt für Schritt begleiteten.»

Es gab zwar schichtspezifische Unterschiede, aber ganz allgemein galt: Die meisten Männer kannten nichts anderes, als dass die Frau von ihnen abhängig war, ihnen zu dienen und gehorchen hatte, und es war ihnen logischerweise sehr genehm so.

Es gab zwar schichtspezifische Unterschiede, aber ganz allgemein galt: Die meisten Männer kannten nichts anderes, als dass die Frau von ihnen abhängig war, ihnen zu dienen und gehorchen hatte, und es war ihnen logischerweise sehr genehm so (weshalb sie später, als radfahrende Frauen keine Einzelfälle mehr waren, die medizinischen Gefahren solchen Tuns ins Feld führten). Dass Frauen ihren Bewegungsradius eigenständig erweiterten und überhaupt ein selbstbestimmtes Leben anstreben durften, war noch kaum denkbar, auch für die meisten Frauen nicht. Gemäss der deutschen Frauenrechtlerin Helene Lange waren die Errungenschaften der Emanzipationsbewegung in jener Zeit noch entsprechend gering, «praktisch wie geistig».

Und nun tauchten in dieser Zeit, die so selbstverständlich eine von Männern dominierte war, plötzlich Frauen auf Fahrrädern auf. Die neuen, aus eigener Muskelkraft angetriebenen «Maschinen» respektive Stahlrösser waren selbst noch für Männer aufregend, längst nicht jeder konnte sich in den Anfangszeiten eines leisten, es waren vorab die feineren Herren, die auf ihnen durch die Gegend schwebten, zunächst noch auf dem Hochrad, bald auf solchen, die praktisch genau so aussahen wie heutige Velos.

Eine Münze und ein Gummiband sind alles, was es braucht, um einen Rock zum velotauglichen Kleidungsstück zu machen. Eine clevere und preisgünstige Lösung für alle unsere Leserinnen, die gern Röcke tragen, diese aber beim Velofahren als hinderlich empfinden.

Entblösste Knöchel

Zwar war es damals nicht neu, dass Frauen Sport trieben, turnten, badeten, Tennis spielten etwa, aber das passierte im vor fremden (männlichen) Augen geschützten Rahmen. Mit dem Velo nun begab sich die Frau auf die Strasse und damit in die Öffentlichkeit. Die wenigen, die sich das getrauten, taten es anfangs noch in ihren Röcken, auf die Gefahr hin, dass sich ihre Knöchel oder gar Knie entblössten, was ein grosses Tabu war, oder dass sich der wallende Stoff im Rad verhedderte und sie stürzten.

Das Velo erst ermöglichte der Frau, ihren Bewegungsradius zu erweitern, entfernt liegende Orte in nützlicher Zeit zu erreichen. Keine Frage: Das Velo half mit, die Frau unabhängiger zu machen.

Langer Rock auf Velo war (und ist) einfach nicht sehr praktisch. Einige verkleideten sich deshalb (und um nicht angefeindet zu werden) als junge Männer, andere schummelten, indem sie Hosen trugen, die mit einer Art Schurz bedeckt wie Röcke aussahen. Bis sich schliesslich erste Radfahrerinnen getrauten, sogenannte Pumphosen anzuziehen, sichtbar als Frau. Wie revolutionär das war, wird anhand Stefan Zweigs Schilderungen zum damaligen Dilemma Frau/Hose deutlich: «Vielleicht wird man heute noch verstehen, dass es in jener Zeit als Verbrechen gegolten, wenn eine Frau bei Sport oder Spiel eine Hose angelegt hätte. Aber wie die hysterische Prüderei begreiflich machen, dass eine Dame das Wort ‹Hose› damals überhaupt nicht über die Lippen bringen durfte? Sie musste, wenn sie schon der Existenz eines so sinnengefährlichen Objekts wie einer Männerhose überhaupt Erwähnung tat, dafür das unschuldige ‹Beinkleid› oder die eigens erfundene ausweichende Bezeichnung ‹die Unaussprechlichen› wählen.»

Emanzipation auf Rädern

In England war man zu dieser Zeit nicht ganz so prüde unterwegs. Bereits 1897 gab es dort den von Radfahrerinnen einberufenen «Hosenkongress» zu Ehren dieser «Tracht der Emanzipation». Hunderte von Frauen sollen teilgenommen haben. So waren die radelnden Frauen denn auch die Ersten, die den Rock verbannten, bald schon folgten andere Sportlerinnen ihrem Vorbild und stiegen in die Hose, vor allem Bergsteigerinnen und Skifahrerinnen.

Die Deutsche Cholarist Schneider, die 1883 noch gemeinsam mit ihrem Mann radelte, hörte trotz all der Beschimpfungen und der Hunde, die auf sie gehetzt wurden, nicht nur nicht auf damit, sondern sie getraute sich später sogar, alleine auf dem Fahrrad unterwegs zu sein, obwohl sie sich dadurch «wiederholt durch Wagen in Lebensgefahr» brachte. Sie tat es, weil ihr ausserhalb der Stadt lebender Vater krank war und sie ihn «mit Hilfe des Rades besuchen konnte». Das Velo erst ermöglichte der Frau, ihren Bewegungsradius zu erweitern, entfernt liegende Orte in nützlicher Zeit zu erreichen. Keine Frage: Das Velo half mit, die Frau unabhängiger zu machen.

«Das Fahrrad hat mehr zur Emanzipation der Frau beigetragen, als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen.»

Rosa Mayreder

Zahlreich sind die Stimmen, die sagen, das Fahrrad habe entscheidend zur Emanzipation der Frau beigetragen. Immer wieder zititert wird etwa die österreichische Frauenrechtlerin Rosa Mayreder mit ihrem Satz «Das Fahrrad hat mehr zur Emanzipation der Frau beigetragen, als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen.» Auch für den deutschen Philosophen und Schriftsteller Eduard Bertz brachte das Fahrrad die Emanzipationsbestrebungen der Frau entscheidend voran. Er schrieb 1900 in «Philosophie des Fahrrads», es habe «mit der Erziehung des Weibes zur Selbständigkeit im praktischen Leben Ernst gemacht», und: «Der Radsport hat die Frauenfrage ihrer Lösung näher gerückt, als es lange Jahrzehnte unermüdlicher Agitation vermocht hätten.»

Von Schriftstellern wie Emile Zola wurde das Radfahren für dessen befreiende und emanzipatorische Wirkung gepriesen. Es gab und gibt allerdings auch Stimmen, die nicht einverstanden sind mit der so hochgelobten Bedeutung des Fahrrads für die nachhaltige Befreiung der Frau. Noch zu Zeiten der radelnden Pionierinnen wurden diese von Frauenrechtlerinnen aufgefordert, sich doch bitte konkret in der Frauenbewegung zu engagieren. Und später wurde der unabhängigen, selbständigen «neuen Frau» auch vor Augen gehalten, dass sie sich nun doch nur von einem Konsumgegenstand – dem Velo – und somit vom Akt des Konsumierens abhängig gemacht habe.

Erst das Stimmrecht, dann das Rennen

Immerhin: Dass Frauen jeder Schicht seit über hundert Jahren auf der Strasse und ganz selbstverständlich ihre Beine spreizen dürfen, machte das Velo möglich. Zuvor waren es nämlich nur die wohlhabenden Frauen, die Selbiges tun durften, die Reiterinnen – und unter ihnen auch nur diejenigen, die nicht in den Damensattel gezwungen wurden. Dennoch sollte es lange dauern, bis die radelnde Frau in der Schweiz auch als Sportlerin ernst genommen wurde: Erst seit 1966 waren «Damen» offiziell als Mitglieder des SRB (heute Swiss Cycling) zugelassen. Und erst 1976 fand hierzulande das erste Damen-Strassenrennen statt – fünf Jahre nachdem das Frauenstimmrecht eingeführt worden war.

Dieser Beitrag erschien in gedruckter Form in Velojournal 5/2014. Anlässlich des internationalen Frauentags macht Velojournal den Beitrag allen Leserinnen und Lesern zugänglich.

Literatur

Dörte Bleckmann

Wehe wenn sie losgelassen!

Über die Anfänge des Frauenradfahrens in Deutschland.

Maxime-Verlag. 176 Seiten; 16.90 Euro (D)

Rüdiger Rabenstein

Radsport und Gesellschaft

Ihre sozialgeschichtlichen Zusammenhänge in der Zeit von 1867 bis 1914.

Weidmannsche Verlagsbuchhandlung