Die Zürcher Spiele könnte man im Rückblick in fünf Akte unterteilen:
Akt 1: Die Vorgeschichte
Mit den Vorbereitungen begann die öffentliche Debatte über Sinn und Unsinn des 9-tägigen Grossanlasses. Vorab die NZZ machte Stimmung dagegen. Prominente Privatpersonen und das Kinderspital reichten Rekurse ein, die allesamt abgewiesen wurden. Befürworterinnen versprachen sich von den Rennen sportliche Höhepunkte, gute Stimmung und schöne TV-Bilder. Das letzte Mal hatte es eine Rad-WM 1946 in Zürich gegeben. Ein Anlass, der Zürich begeisterte und der Stadt lange in Erinnerung blieb. Die Velofans hofften, dass der Funken erneut überspringen würde.
Akt 2: Der Start der WM
Endlich fiel der Startschuss, bei schönstem Herbstwetter. Auch Sportmuffel säumten die Rennstrecke, liessen sich von den Frauen und Männern in den farbigen Tricots mit den sirrenden Rädern (und dem sie begleitenden Autopulk) faszinieren und verzaubern. Aufnahmen der fröhlichen Rad-Weltstadt Zürich gingen um die Welt, der See glitzerte im Gegenlicht. Alles perfekt – und verkehrsmässig gar nicht so schlimm, wie befürchtet.
Wer mit dem Velo unterwegs war, fand ausserhalb der Rennstrecken viel Platz zum Fahren, der ÖV fuhr ausser einzelnen Strecken recht normal. In den betroffenen Stadtkreisen Seefeld und Witikon gab es neben den bekannten Kritikern auch viele Anwohnerinnen und Anwohner, die das Spektakel und das entspannte Velofahren ohne den üblichen Autoverkehr genossen.
Akt 3: Der Unfall von Muriel Furrer
Dann folgte der verregnete Donnerstag. Noch liess sich niemand die Stimmung verderben, obwohl es auch in den Fanzonen Bindfäden regnete. Erst am frühen Abend erreichte die Öffentlichkeit die Nachricht, dass es auf einem abschüssigen Streckenteil in Küsnacht einen schweren Unfall gegeben hatte. Schock und Unglauben! Am Freitagnachmittag dann die traurige Nachricht, dass die 18-jährige Nachwuchsfahrerin Muriel Furrer an den Folgen eines schweren Schädel-Hirntraumas gestorben war. Dennoch entschieden das UCI und das lokale OK in Rücksprache mit der Familie des Opfers, die Meisterschaften weiterzuführen. The Show must go on.
Seither ist kein Tag vergangen, an dem nicht neue Details zum fatalen Unfall durchgesickert sind. Wie konnte die junge Frau so lange unentdeckt bleiben, wo doch bei einer solcher Verletzung jede Minute zählt? Gab es doch Zeuginnen, fuhr sie in einer Gruppe? Anfänglich war man davon ausgegangen, dass sie alleine gefahren und gestürzt war. Warum diente der Tracker an ihrem Rad zwar der Live-TV-Übertragung, aber nicht ihrer Ortbarkeit?
Akt 4: Die Aufarbeitung
Fragen, die bleiben, und die auch in der Aufarbeitung von Gino Mäders Tod an der Tour de Suisse 2023 nicht restlos geklärt sind. Sie werfen auch ein Schlaglicht auf einen Sport und seine Fans. Denn vor und hinter den Kulissen des TV-Spektakels stecken handfeste kommerzielle Interessen. Es ist ein Sport, der gnadenlos sein kann – vor allem zu all den Helfern und ausgebeuteten Wasserträgern. Auch Nachwuchsfahrerinnen und -fahrer gehören dazu, egal wie populär sie sein mögen.
Und der Radsport ist schlicht gefährlich: Viele tödliche Unfälle ereignen sich auf Trainingsfahrten, wo Radprofis von Autos angefahren, abgeschossen oder überfahren werden. Weltweit sind über vierzig solche Unfälle in den letzten zwanzig Jahren zu verzeichen.
Zürich hat während neun Tagen gross angerichtet, zweifellos. Ob ein kürzerer Anlass für weniger Polemik im Vorfeld gesorgt hätte, ist im Nachhinein müssig zu fragen. Dass ein tragischer Unfall diese WM überschattet, ist traurig, aber kaum alleine den lokalen Behörden anzulasten. Ob eine Verkettung unglücklicher Umstände, Lücken im Sicherheitsdispositiv eine schnelle Rettung verhinderten, muss aber schonungslos aufgearbeitet werden.
Akt 5: Was bleibt?
Bleibt die Frage, was vom Grossanlass für Zürichs Velofahrende bleibt. War das entspannte Radeln mit vielen bunten, internationalen Radfreunden nur eine kurze Fata-Morgana? Und: Werden die Behörden den Schwung für die Veloförderung mitnehmen, so wie es Paris vor den olympischen Spielen dieses Jahr gemacht hat und 100 Kilometer neue Radwege gebaut hat?
Würde Zürich den gleichen Elan beim Velowegnetz zeigen, wie jenen, den sie für die WM an den Tag legte, sähen die Strassen heute anders aus. Stattdessen wird man wohl zum Courant Normal zurückgehen: Auto gegen Velo, Velo gegen Personen zu Fuss – der übliche Verdrängungswettbewerb. Und jedes Jahr ein paar Hundert Meter Veloschnellrouten, die man dem Autoverkehr abzwackt. So träumen wir weiter von der Velostadt Zürich – die zumindest ein schönes Symbol für die junge, verunglückte Sportlerin Muriel Furrer wäre.