Von Long Covid zum Sieg bei der Tour de Suisse

Die Berner Radrennfahrerin Marlen Reusser gewinnt zum zweiten Mal die Landesrundfahrt. Die Art und Weise ihres Sieges an der Tour de Suisse Women ist so bemerkenswert wie vielversprechend.

Emil Bischofberger

Emil Bischofberger, Autor
News, Sport, 17.06.2025

Es waren vier heisse Juni-Tage zwischen Gstaad und Küssnacht am Rigi. Nicht nur was das Thermometer betraf, sondern auch sportlich. Die Tour de Suisse Women war ein hochklassiges Duell zwischen Demi Vollering und Marlen Reusser: Hier die niederländische Seriensiegerin, da das Aushängeschild des Schweizer Frauenradsports. Zugleich traten zwei Fahrerinnen gegeneinander an, die zuletzt drei Saisons Teamkolleginnen gewesen, nun aber beide weitergezogen waren.

Reusser fährt seit diesem Jahr für das spanische Team Movistar – erstmals in ihrer Karriere als unangefochtene Leaderin. Das alleine ist aussergewöhnlich, wenn man die Geschichte der Bernerin kennt. Es geht dabei nicht darum, dass sie erst Mitte 20 und nach dem Medizinstudium zum Radsport fand.

Sondern um die vergangenen zwölf Monate: 2024 hätte ihre Saison werden sollen. In Paris wollte sie, die starke Zeitfahrerin, Olympiasiegerin werden. Und an der Heim-WM in Zürich nachdoppeln. Daraus wurde nichts. Auf eine Covid-Erkrankung im März folgte im April ein Sturz mit schweren Gesichtsverletzungen.

Im Mai fuhr Reusser ihr letztes Rennen. Statt sich auf die Saisonhöhepunkte vorzubereiten, verbrachte sie in ihrer schwierigsten Phase die Tage kraftlos daheim. «Im Kopf war ich in einer halbkomatösen Zwischenwelt», beschrieb sie es in einem SRF-Dok-Film. Long Covid lautete die niederschmetternde Diagnose, die offenliess, ob Spitzensport möglich wäre.

Neue Chance bei Movistar

Umso erstaunter war Reusser, dass das Movistar-Team ihr in jener Situation einen Vertrag über drei Jahre anbot. Erst im Oktober konnte sie wieder aufs Velo steigen und das Training steigern. Die Saison im neuen, weiss-blauen Tricot startete vielversprechend. Bereits vor der Tour de Suisse duellierte Reusser sich mehrfach mit Vollering um Rundfahrten-Gesamtsiege. Eine neue Situation, nachdem sie die Jahre zuvor eine der wichtigsten Helferinnen der Niederländerin gewesen war. «Ich wusste, mir fehlte nur ein My zur absoluten Nummer 1, zu Vollering», so Reusser.

«Mein grosses Ziel ist der Giro d’Italia. An der Tour de Suisse will ich mutig sein, den Sport leben.»

Marlene Reusser

Mit dieser Zuversicht startete sie in die Tour de Suisse, obwohl sie vorab ankündigte, nicht unbedingt den Sieg zu suchen. Sie sagte: «Mein grosses Ziel ist der Giro d’Italia. An der Tour de Suisse will ich mutig sein, den Sport leben.»

Das setzte die 33-Jährige um: Auf der Startetappe im Saanenland fuhren sie und Vollering der gesamten Konkurrenz davon. Im Endspurt stellte sich Reusser cleverer an, gewann die Etappe und übernahm das gelbe Tricot der Gesamtführenden. Zum ersten Mal hatte sie ein Duell mit Vollering gewonnen.

So war die Situation auch vor der Schlussetappe noch. Nur drei Sekunden trennten die beiden Frauen. Das letzte Teilstück versprach nicht nur deswegen Spannung, sondern auch weil es für die eine Fahrerin ein Heimspiel war: Die Niederländerin Vollering wohnt in Meggen, unweit der Rennstrecke. Für Reusser war die Heimrundfahrt mit einer deutlich weiteren Anreise verbunden: Auf dieses Jahr hin verlegte sie ihren Wohnsitz nach Andorra, wo sie mit ihrem Lebenspartner und Trainer Hendrik Werner lebt.

Die Höhepunkte der Tour de Suisse Women 2025. 

Reusser liebt das Spiel

Auf der Schlussetappe setzte Reusser einen vor dem Rennen geäusserten Satz um: «Ich sehe den Radsport als Spiel, und ich liebe dieses Spiel.» Abgezockt wartete sie auf ihren Moment. Als sie zehn Kilometer vor dem Ziel attackierte, war Vollering von Angriffen anderer Fahrerinnen so zermürbt, dass sie nicht mehr reagieren konnte. Reusser fuhr zum Etappen- und Gesamtsieg, ihrem zweiten nach 2023.

Im Duell mit Vollering errungen und dazu auch die Tour-de-France-Femmes-Siegerin Katarzyna Niewiadoma im Schach gehalten – der Erfolg wäre auch ohne Reussers Comeback vom Nullpunkt vor acht Monaten bemerkenswert. Trotzdem wollte sie danach nicht mehr auf diesen Aspekt eingehen. Reusser hielt fest, dass es ihr gezeigt habe, dass alles extrem schnell gehen könne. Aber sie wolle nicht in der Vergangenheit leben, niemand sollte dies, ob positiv oder negativ.

Reusser blickt lieber nach vorne: Richtung Giro, wo sie zu den Favoritinnen gehören wird. Und wenn die Topform gar bis Ende Juli und der Tour der Frauen in Frankreich anhält? Vielleicht erlebt sie doch noch ihr grosses Jahr – mit einem Jahr Verspätung.

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