Toleranz statt Tempo

Die Aggression im Strassenverkehr ist das Symptom einer überforderten Gesellschaft, in der ein striktes Zeitregime dominiert und Empathie schwindet. Ein Umdenken ist nötig und ein einfaches Lächeln könnte helfen.

Julie Nielsen, Redaktorin (julie.nielsen@velojournal.ch)
Kommentar, 05.06.2025

Die grössten Errungenschaften der Neuzeit sparen vermeintlich Zeit. Alles geht schneller: Kommunikation, Arbeit, Freizeit und Mobilität. Doch trotz permanenter Beschleunigung fehlt uns genau das, was wir einzusparen glauben: Zeit. Wir sind ständig in Eile und haben das Gefühl, wertvolle Zeit zu verlieren. Deshalb befinden wir uns in einem andauernden Kampf, die flüchtige Zeit zurückzugewinnen. Im Strassenverkehr manifestiert sich dieses Phänomen in Aggression.

Wut und Aggressionen nehmen zu

Auch in der Schweiz ist diese Entwicklung spürbar. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) berichtet von einer Zunahme schwerer Unfälle. Die Verkehrspsychologin Jacqueline Bächli-Biétry erklärt gegenüber SRF, dass die hohe Verkehrsdichte und der Zeitdruck zu Frustration führen, die sich in aggressivem Verhalten entladen. Dafür gibt es den Fachbegriff: «Road Rage» – Wut, die im Verkehr eskaliert.

Ich komme zuerst

Der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa beschreibt in seiner Theorie der «Beschleunigung und Entfremdung», wie die ständige Steigerungsgeschwindigkeit zu einer Entfremdung des Individuums führt. Der Mensch verliert die Fähigkeit, sich mit seiner Umwelt zu verbinden, was zur Folge hat, dass Empathie schwindet und die Aggressionsbereitschaft zunimmt.

«Der Mensch verliert die Fähigkeit, sich mit seiner Umwelt zu verbinden, was zur Folge hat, dass Empathie schwindet und die Aggressionsbereitschaft zunimmt.»

Hinzu kommt die Tatsache, dass sich viele Personen im Auto sicher und «unsichtbar» fühlen, was die Hemmschwelle senkt. Andere Verkehrsteilnehmende werden als Eindringlinge in den privaten Raum betrachtet.

Keine Zeit zum Reflektieren

Das Konzept der Dromologie des französischen Philosophen und Kritikers der Mediengesellschaft, Paul Virilio ergänzt dieses Bild, indem es die Geschwindigkeit als zentrales Element moderner Gesellschaften identifiziert. Die permanente Beschleunigung führt demnach zu einem Zustand, in dem der Mensch die Kontrolle über die von ihm geschaffenen Systeme verliert, was sich in Phänomenen wie der «Road Rage» manifestiert.

Verkehrsteilnehmende sind oft getrieben von dem Wunsch nach Effizienz und dem Gedanken «ich muss schnell ankommen». Andere Verkehrsteilnehmende wirken im dromologischen Raum wie Hindernisse – sie verlangsamen das eigene Tempo. Wenn andere Verkehrsregeln verletzen oder den eigenen Fluss behindern, wird das als Angriff empfunden. Daraus entstehen asymmetrische Begegnungen, die zu Dominanzverhalten und Konflikten auf dem engen Strassenraum führen.

«Die Strasse ist ein gemeinsamer Raum und kein Kriegsschauplatz.»

Es kommt zu Übersprungshandlungen, die sich in waghalsigen Überholmanövern und gefährlichen Verkehrsregelverstössen manifestieren. Virilio warnt vor Entfremdung durch Geschwindigkeit. Wenn alles schneller wird, verlieren wir den Raum zum Denken, Fühlen und verantwortungsvollen Handeln.

«Lächle und die Welt lächelt zurück»

Es bräuchte also ein gesellschaftliches Umdenken. Die Strasse ist ein gemeinsamer Raum und kein Kriegsschauplatz. Wir müssen lernen, die Geschwindigkeit zu drosseln und uns mehr Zeit zu nehmen – nicht nur physisch, sondern auch mental. Ein bewussteres Miteinander im Strassenverkehr beginnt mit der Anerkennung der eigenen Aggression und der Akzeptanz, dass man nicht alleinig über die Strasse verfügen kann.

Dazu braucht es den Willen zur Rücksichtnahme und die Bereitschaft, anderen Menschen im Strassenverkehr mit Geduld und Freundlichkeit zu begegnen. Simpler Augenkontakt baut die Distanz ab. Ein freundliches Lächeln schafft Begegnung und Beziehung.

Wir sollten uns an folgendes Sprichwort halten: «Lächle und die Welt lächelt zurück». Im dichten Verkehr kann diese einfache Geste entscheidend sein, für ein, wenn auch nicht zwingend schnelleres, aber sicher besseres Vorwärtskommen.

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