Gravelbike Abenteuer: Intercity auf zwei Rädern

Von Zürich nach Bern, das geht in 57 Minuten mit dem Intercity-Zug und bleibt in der Regel erlebnisarm. Mit dem Gravelbike kann man das auch in gefühlten 200 Erlebnissen tun. Auf einer Tagesreise über 200 Kilometer.

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Simon Joller
News, Reisen, 19.02.2024

Kurz nach Aarau kommen wir ins Schwimmen – und das beinahe wörtlich. Eben noch halfen uns die wasserdichten Winterschuhe. Jede Pedalumdrehung ein Fussbad auf dem überfluteten Uferweg. Doch dann taucht unsere Strecke auf Nimmerwiedersehen ab in die Aare. Hochwasser, typisch Winter eben.

Aber haben wir nicht gerade dieses Winterabenteuer gesucht, Fabian und ich? Jetzt heisst es improvisieren, einen Weg durch das Dickicht nebenan zum nächstgelegenen Weg finden. Und zwar schnell. Es ist gefühlt bereits Erlebnis Nummer 60 auf unserer Tour. Und das bei erst Kilometer 60. 140 fehlen noch bis Bern, doch schon jetzt liegen wir deutlich hinter unserem Zeitplan.

Die Gunst des Winters

Drei Wochen zuvor erzähle ich Fabian erstmals von meiner Idee: Mit dem Gravelbike an einem Tag von Zürich nach Bern. Mit – diskret erwähntem – Umweg. 200 flache Kilometer entlang von Limmat und Aare, plus einem «kleinen» Umweg über Bielersee und Wohlensee. Der Zahl 200, den flachen Uferwegen und der Herausforderung zuliebe.

«Schon Kilometer 3 bringt das ersehnte Wintererlebnis: Der Fluss dampft sein Wasser in die kalte Luft. Ein Morgen, wie ihn nur die kalte Jahreszeit zeichnen kann.»

Die im Sommer bei Spaziergängern beliebten Uferwege sind jetzt menschenleere Gravel-Strecken. Die perfekte Wintertour, kein Dichtestress, kein Auskühlen in Abfahrten. Wo keine Steigungen, da keine Abfahrten. Tönt locker, wären da nicht die grosse Distanz und das garstige Wetter.

Dass die fiese Kombination unser Zweierteam vor eine Zerreissprobe stellen würde, ahnen wir da noch nicht. Wir sind uns einig: Das probieren wir.

Züri brännt

An einem feuchtkühlen Samstagmorgen Mitte November ist es so weit. 57 Minuten mit dem Intercity von Bern nach Zürich. Wie schnell das doch gehen könnte, aber wie ereignislos auch. Belebender: die zehn Minuten für den Espresso in der Zürcher Bahnhofunterführung.

Und um Zehn nach Sieben Erlebnis Nummer 1 unserer Tour: Der erste Kilometer hinaus in die Dämmerung, über orange spiegelnden Asphalt, frisch gewischt, durch orange spiegelnde Schallschutzfenster-Schluchten. «Züri brännt». Und weit und breit keine Rebellion. Nur die Kerzen für den totgefahrenen Schüler am Escher-Wyss-Platz flackern einsam im Sonnenaufgang.

Limmat mit Volldampf

Der Radweg dahinter: eine Baustelle. Erlebnis Nummer 2, auf das wir verzichten könnten. Wir müssen uns vor motorisierten Individualverkehrsmonstern in Acht nehmen. Dann die Abzweigung an die Limmat, weg vom Asphalt, rauf auf den Schotter der Radroute «Goldküste-Limmat».

Schon Kilometer 3 bringt das ersehnte Wintererlebnis: Der Fluss dampft sein Wasser in die kalte Luft. Ein Morgen, wie ihn nur die kalte Jahreszeit zeichnen kann. Unsere Radfahrerherzen werden warm, pumpen Energie in Schenkel und Waden. Das Morgenerlebnis schenkt mit jedem Kilometer am Fluss eine weitere Portion Befriedigung.

«Ganz egal, wie nah die Zivilisation ist, wir sind in unserer eigenen Welt, in der das leise Knirschen der Reifen genügend laut ist, um den Alltag zu übertönen.» 

5, 10, 15, Kilometer und Erlebnis 16: Wir überfahren die Kantonsgrenze Zürich-Aargau. Hinein in den Morgennebel, hinein in ein Wäldchen. Dahinter liegen Industrieareal, A1 und Rangierbahnhof Limmattal. Wir sind allein auf dem welligem Waldweg, unser Gefühl für Raum löst sich auf.

Ganz egal, wie nah die Zivilisation ist, wir sind in unserer eigenen Welt, in der das leise Knirschen der Reifen genügend laut ist, um den Alltag zu übertönen. Dass uns dabei auch das Gefühl für die Zeit verloren geht? Wie sollten wir es merken, wenn wir keinen Grund sehen, auf die Uhr zu schauen?

Rasten neben der Raststätte

Kilometer und Erlebnis 20: der Verkehrsfluss. Hinter dem Zaun strömt er, von Zürich nach Bern, über ihm der Fressbalken, 1972 gefeiert als grösste Brückenraststätte Europas. Wir rasten rasch, erledigen am Zaun, was zwischendurch erledigt werden muss, und verschwinden erleichtert im nächsten Waldstück.

Baden zieht uns kurz aus der grünen Blase, spickt uns wieder zurück an die farblose Limmat und hinein ins Stillere. Wo schon bald von Weitem mit «dere schöne grüene Aare» Bern grüsst. Beim Wasserschloss in Brugg kein «Has», aber der Zusammenfluss von Limmat, Reuss und Aare. Urige Wasserkraft.

Fabian ist begeistert, reisst mich mit, hinaus aus der Gleichgültigkeit nach vielen Fahrten über diese schmale Brücke. Zeit, nun doch endlich einmal auf die Zeit zu schauen. Der Bordcomputer zeigt uns aufrüttelnde Zahlen. Distanz zum Ziel: 163 Kilometer. Temperatur: 0 Grad. Zeit: 08:57 Uhr. Das geplante «Znüni näh» in Aarau wird zum «Zähni näh».

Im Uferurwald

Kafi, Sandwich und Kuchen nähren unsere Motivation. Endlich wieder «eifach la loufe». Doch wieder bremst der nasse Boden, zehrt die Kälte, läuft die Zeit. Kilometer 60, der in der Aare verschwundene Weg.

Wir wühlen durchs Unterholz, finden bald den Parallelweg. Weiter also durch den Uferurwald. «Welch einsame Kühnheit, diese Wintertour», loben wir uns und die Erlebnisse bereits wieder. Der 150 Meter hohe Kühlturm von Gösgen buchstäblich am Wegesrand. Erlebnis Nummer 68, und schon ist er wieder verschwunden.

Die Trennung

Olten ist zügig erreicht. Halbe Strecke für den Intercity, noch 20 Kilometer bis zu unserer Halbzeit. Auf ruppigem Schotter an der Aare Erlebnis 95: Wir tauschen Gravelbikes. Fabian probiert meine Federgabel, erlebt sein komfortables Wunder. Mich schütteln seine hart gepumpten schmalen Reifen schwindlig.

Wir tauschen zurück. Fabian zählt plötzlich nicht mehr von Null auf 200, erzählt er später. Sondern so: «30, 20, Sturz, aufrappeln, 10, Solothurn.» Dort putzen wir uns vor dem Bahnhof knapp caffètauglich.

Bei Cappuccino und Panini versinkt Fabian im Handy-Bildschirm. Ich schiele verstohlen. Entdecke seine SBB-App: «Sag nicht?» «Doch, ich bin leer.» «Das kommt wieder.» «Ich nehme den Zug.»

Erlebnis 118: die Trennung. Erkenntnis: Auch Kälte und zu schmale Reifen können Paare trennen.

Schlusssteigung

Weiter allein. Regentropfen gesellen sich hinzu, die ungeliebten Begleiter. Der Blick in der «Grenchner Wiiti», wie soll er anders sein: weit, flach bis zum Horizont in unscharfem Graugrün. Wo bin ich? Raum? Zeit? Meditation für Distanzfahrer, allein noch intensiver.

Ich sehne Erlebnis 155 herbei: Der Blick auf den Bielersee. Wie ruhig er dann endlich da liegt, unter Chasseral und Rebbergen. Die Städte an Anfang und Ende, und zwischendrin verschwunden.

Der Regen geht, Erlebnis 175 kommt und brennt. In den Oberschenkeln. Es sind bislang kaum gewohnte Höhenmeter. Bern will erklommen sein. Kurz und steil immer wieder.

200 Kilometer gelebt

Der Tag hat genug für heute, verabschiedet sich wie er gekommen ist: in Orange. Das soll die Farbe der Geselligkeit sein. Erlebnis 180: Zu viert sind wir in diesem Orange, das Schwanenpaar noch und der Hobbyfotograf. Am Teichrand, der ohne Regenwetter Wiesenrand wäre. Ungewohntes Bild, gebrannt in Pixel.

Dann knipsen in der Ferne die Berner Vororte ihre Lichter an. Noch elf Kilometer. Telefon nach Hause, dass die geplante Zeitreserve aufgebraucht, aber alles gut ist. Und dann noch besser wird: Erlebnis 200, zu Hause. Stolz, erschöpft. Zürich-Bern erlebt, gelebt.

Zentral für eine lange Ausfahrt ist der Komfort. Die Luxusvariante: Eine Federgabel oder ein gefederter Vorbau. Beides reduziert die Ermüdung des Oberkörpers und beugt Schmerzen in Schultern, Händen oder Rücken vor.

Aber auch die Wahl von Reifen und Luftdruck sind entscheidend: sinnvoll sind 40 Millimeter breite Reifen, besser 45 Millimeter oder mehr, gefahren mit geringem Luftdruck. Tubeless, also ohne Schlauch, erlaubt die Absenkung des Luftdrucks auf bis zu 1,5 Bar, abhängig von Reifenbreite und Fahrergewicht. Eine grobe Vorgabe sind 2 Bar. Mit Schlauch sollte man rund 0,5 bar härter pumpen, um Pannen zu verhindern.

Aus der Welt der Ultrarennfahrer kommt der Aero-Auflieger. Auf der Langdistanz dient er nicht (nur) der Reduktion des Luftwiderstandes, sondern primär der Entlastung von Armen und Oberkörper. Alternativ passt auch ein Mountainbike auf diese Strecke.

Infos zur Tour

GPS-Daten: Gravel Zürich – Bern

Distanz: 200 Kilometer

Höhenmeter: 1400 Meter

Etappierung: Aufteilung in zwei Etappen (Zürich Solothurn 118 Kilometer, Solothurn-Bern 82 Kilometer)

Verpflegung: Kaffes, Bäckereien oder Einkaufsmöglichkeiten unter anderem in Baden, Brugg, Aarau, Olten, Aarwangen, Wangen, Solothurn, Büren, Biel und Aarberg. Am Sonntag offene Shops an den grösseren Bahnhöfen.

Route: Am HB Zürich Ausgang Seite Sihlquai/Landesmuseum nehmen. Der Radroute 66 (Goldküste-Limmat) folgen bis Landvogteischloss Baden. Rechtsseitig dem Limmatufer folgen bis zur Holzbrücke von Turgi. Flussseite wechseln. Entlang der Eisenbahnbrücke die Reuss überqueren. Ab Brugg die Radroute 8 (Aareroute) nehmen. Zwischen Aarwangen und Walliswil alternativ rechts der Aare auf den Schotterwegen bleiben. Ab Aarwangen bis Höhe Autobahnraststätte Deitingen alternativ den Aareuferweg wählen. Radroute 8 bis Solothurn. Ab Solothurn Radroute 44 (Le Jorat-Trois Lac-Emme) bis Lüsslingen. Ab Lüsslingen linksseitig der Aare folgen bis Büren an der Aare. In Büren an das rechtsseitige Ufer zurück auf die Radroute 8 (Aareroute) wechseln, Alternativ zwischen Hagneck und Walperswilbrücke linksseitig des Hagneck-Kanals auf Schotter fahren. Zurück auf den Radweg 8. Zwischen Niederried und Golaten alternativ am rechtsseitigen Aareufer bleiben (Achtung Fahrverbot über 1 Kilometer wegen Naturschutzzone). Zurück auf Radroute 8. Alternativ zwischen AKW Mühleberg und Stauwehr Wohlensee rechtsseitig am Aareufer auf Schotter. Alternativ zwischen Eymatt und Steinishof entlang des Wohlensee auf Schotter. Route 8 bis Bahnhof Bern.

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