Laurens van Rooijen,
Autor
(lvr@cyclinfo.ch)
News,
07.09.2023
Was passiert mit dem Verkehr, wenn Städte wieder grüner und Strassen belebter würden? Das Buch «Movement» ist ein radikaler Aufruf, den öffentlichen Raum und damit auch die Mobilität neu zu denken.
Laurens van Rooijen,
Autor
(lvr@cyclinfo.ch)
News,
07.09.2023
Wem und wozu sollen Verkehrsflächen dienen? Diese Fragt stellt sich mehr denn je. (Foto: Denys Rodionenko, Unsplash)
Am Anfang des Buchs «Movement» stand eine Recherche der Journalistin Thalia Verkade für eine Artikelserie zum drohenden Verkehrskollaps in den Niederlanden und zu den volkswirtschaftlichen Kosten der Staus.
Verkade war kurz zuvor in ihre Heimat zurückgekehrt, nachdem sie als Auslandskorrespondentin in Moskau stationiert gewesen war. In Russland hatte sich die junge Familie einen Lada «Niva» gekauft, um von der Stadt ins Ferienhaus im Grünen zu gelangen. Da dieser Geländewagen die europäischen Abgasvorschriften nicht erfüllte, blieb er in Russland zurück.
In den Niederlanden begann Verkade mit ihrer Recherche, traf sich mit Lokalpolitikern wie Verkehrsplanerinnen und liess sich vor Ort die Herausforderungen erklären, vor denen diese stehen.
Hinterfragt die Verkehrsplanung der vergangenen Jahrzehnte: Thalia Verkada. (Foto: ZVG)
Dabei kam die Journalistin bald in Kontakt mit Marco te Brömmelstroet, Dozent an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der Universität Amsterdam. Statt einfache Antworten auf Verkades Fragen zu liefern, stellte te Brömmelstroet vermeintliche Gewissheiten infrage.
Denn seiner Auffassung nach ist die gesamte Verkehrsplanung seit den 1930er-Jahren auf einen ungestörten Fluss des motorisierten Verkehrs ausgelegt. Dadurch seien Personen zu Fuss und auf dem Velo an den Rand gedrängt worden.
Diese einseitige Ausrichtung zeige sich denn auch in der Sprache der Planung: Der «Verkehrsfluss» hat Priorität vor anderen Aspekten und wenn dieser Fluss ins Stocken gerät, ist von «Stau» oder gar einem «Infarkt» die Rede – auch wenn es nur um Zeitverluste und nicht um Leben und Tod geht.
Der Austausch mit Marco te Brömmelstroet, der als «Fietsprofessor» (niederländisch für «Veloprofessor») auch gekonnt soziale Medien bespielt und ein gesuchter Redner auf Kongressen ist, veränderte Schritt für Schritt die Stossrichtung von Thalia Verkades Recherche.
Statt Wege aufzuzeigen, wie die Autobahnen und Strassen noch effizienter gestaltet und Staus verhindert werden könnten, begann sie andere Fragen zu stellen: Wie sind die Strassen zu dem geworden, was sie heute sind? Welche Anspruchsgruppen und Lobbys hatten darauf entscheidenden Einfluss, was sind die realen Kosten des motorisierten Individualverkehrs und was wären machbare Alternativen?
Im Kern lief alles auf die Frage hinaus, wem und wozu die Strassen dienen sollten.
Für Autos gebaute Strassen haben Velofahrende an den Rand gedrängt. (Foto: Danique Veldhuis, Unsplash)
Hier kommen einige Kernthesen des «Fietsprofessors» ins Spiel: Erstens dienen Strassen demnach als Teil des öffentlichen Raums verschiedenen Funktionen und nicht nur einseitig einem maximierten Durchfluss. Sie sollten auch ein Begegnungsort sein, der einen Mehrwert generiert, zum Verweilen einlädt und wo Menschen sich sicher fühlen können.
Auch soll der Raum mit Hilfe von Bäumen, Grünflächen und Wasserläufen auf Kosten versiegelter Flächen einen Beitrag zur Rückhaltung grosser Mengen an Regenwasser und zur Minderung der Überhitzung städtischer Ballungsgebiete leisten.
Zweitens proklamiert te Brömmelstroet weniger Regeln und Ampeln bei tieferem Tempo. Denn laut ihm geht es beim Verhalten im Verkehr um zwischenmenschliche Interaktion, die im Idealfall Vertrauen schafft. Darum ist er auch kein Freund von selbstfahrenden Autos sowie (vermeintlich) smarten E-Bikes und Helmen.
Und drittens sollen vermeintlich unpolitische Standards und Richtlinien kritisch hinterfragt werden, etwa die Anzahl der für neue Überbauungen zur Verfügung zu stehenden Parkplätze, zur Gestaltung von Kreuzungen und Zufahrten zu Schulen oder zur Aufteilung des Strassenraums zwischen den verschiedenen Nutzern und Verkehrsträgern, und wenn nötig an geänderte Bedürfnisse angepasst werden.
«Mich irritiert, dass wir uns eine Welt ohne Dominanz des Autos nicht mehr vorzustellen wagen.»
Thalia Verkade, Journalistin
Das gilt gemäss «Veloprofessor» so auch für die Sprache. Denn unsere Wortwahl formt die Realität um uns herum und bestimmt, welche Lösungen wir für machbar halten. Das Ziel lautet dabei nicht, die künftige Planung nur an einem Verkehrsträger auszurichten, denn das würde nur zu einem neuen, radikalen Monopol führen, wie es in der Nachkriegszeit während Jahrzehnten zu Gunsten des motorisierten Individualverkehrs geschehen ist.
Te Brömmelstroet propagiert, den Verkehr zu entschleunigen. (Foto: Darth Liu, Unsplash)
Was te Brömmelstroet hingegen nicht tut und was den eigentlichen Wert des Buchs «Movement» von Thalia Verkade ausmacht: Es postuliert keine eigenen detaillierten, vermeintlich unpolitischen Standards und Richtlinien, die zu einer besseren Welt führen sollen.
Stattdessen ruft das Buch undogmatisch zu einem grundlegenden Nachdenken über gesellschaftliche Bedürfnisse rund um die Themen Mobilität, Lebensqualität, Gesundheit und sozialem Austausch auf.
Dabei sind von Fall zu Fall Kompromisse mit Augenmass zwischen diesen Bedürfnissen unter Einbezug aller relevanter Anspruchsgruppen zu finden. Und dies ohne das Korsett von in Beton gegossenen Fehlplanungen der 1960er- und 1970er-Jahre, wie sie heute den öffentlichen Raum vielerorts dominieren und wenig einladend machen.
Leider ist dieses Buch bisher nur in einer englischen Übersetzung als «Movement – how to take back our streets and transform our lives» erhältlich. Im niederländischen Original lautet der Buchtitel «Das Recht des Schnellsten – wie unsere Strassen immer asozialer wurden».
Eine deutsche Übersetzung ist noch nicht geplant. Aber Vorsicht: Nach der Lektüre wird man die Strassen nie mehr gleich betrachten. Und manche Beton und Stahl gewordenen Realitäten im Strassenbau öfters infrage stellen.
Der Veloprofessor: Marco te Brömmelstroet. (Foto: ZVG)
Welche Innovation möchten Sie beim Velo sehen?
Marco te Brömmelstroet: Wie eine Büroklammer ist das Fahrrad vielleicht schon mehr oder weniger perfekt für den Gebrauch im Alltag. Innovationen sollten daher nicht auf die Minderung der negativen Folgen bestehender Verkehrsflächenaufteilung fokussieren, wie dies smarte Helme und E-Bikes vorgeblich tun. Das Augenmerk sollte vielmehr der Verbesserung der Infrastruktur und der Kraftfahrzeuge gelten, um die Strassen für alle sicherer zu machen. Das bedingt zwingend eine Entschleunigung.
Sie propagieren die Strasse als geteilten Lebensraum, die verschiedensten Zwecken dient und nicht nur der Mobilität. Wie funktioniert das für das Velo als Verkehrsmittel, das darauf ausgelegt ist, in Schwung zu bleiben?
Bei Kollisionen sorgt die kinetische Energie von Fahrzeugen für Verletzungen – und diese ist das Produkt aus Masse und Tempo. Weil das Fahrrad einen Bruchteil eines Autos wiegt, innerorts langsamer unterwegs und bei Ausweichmanövern auch noch flexibler ist, passt es sehr gut in das Konzept der Strasse als geteilter Lebensraum, in dem keine Form der Mobilität dominiert.
Was ist Ihrer Ansicht nach der brillanteste Aspekt des Velos als Verkehrsmittel?
Das Fahrrad ist ein nutzerfreundliches Fortbewegungsmittel, das einen hohen praktischen Nutzen bietet – und das mit nur minimalen, negativen Konsequenzen für andere, die Gesellschaft und die Umwelt.
Als Umwelt- und Infrastrukturplaner weiss der Niederländer Marco te Brömmelstroet, wovon er in Sachen Verkehr und Stadtplanung spricht. Er ist seit 13 Jahren als Forscher und Dozent an der Universität Amsterdam tätig und wirkt dort seit drei Jahren als Professor für Urbane Mobilität der Zukunft. Seine Erkenntnisse vermittelt er als «Fietsprofessor» auch gerne über soziale Medien und durch launige, wissenschaftlich dennoch präzise Vorträge.
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