Integration am Velo: Fluch und Segen

Ob E-Bikes oder Rennvelos: Bei den jüngsten Modellen sind kaum noch Leitungen und Züge zu sehen. Doch was schön aussieht, kann in der Fahrradwerkstatt für Ärger sorgen – und für die Kundinnen und Kunden teuer werden.

Laurens van Rooijen, Autor

Laurens van Rooijen, Autor (lvr@cyclinfo.ch)
News, 21.05.2024

Ob E-Bikes oder Rennvelos: Bei den jüngsten Modellgenerationen sind kaum noch Leitungen und Züge zu sehen. Auch Scheinwerfer und Rücklichter verschmelzen mit Rahmen und Gepäckträger.

Während der Trend hin zu mehr Integration Pluspunkte bei Design und Aerodynamik sammelt, sorgt er in der Werkstatt oft für Ärger und Mehraufwand – und führt bei den Kundinnen und Kunden zu höheren Kosten. Wer die letzte Tour de France verfolgt hat, bekam keine dem Fahrtwind ausgesetzten Schaltzüge oder Bremsleitungen zu sehen. Denn bei der neusten Rennad-Generation ist der Trend hin zur Integration am weitesten fortgeschritten.

Dass elektronische Schaltungen im Rennvelo-Segment bereits weit verbreitet sind und oft per Funksignal funktionieren, erleichtert das Streben nach einer möglichst sauberen Optik dank fortgeschrittener Integration. Dabei wird seitens der Hersteller auch viel Wert auf möglichst nahtlose Übergänge zwischen Gabel, Steuerrohr und Vorbau sowie Sitzrohr und Sattelstütze gelegt – letztere oft nicht rund, sondern mit einem Aero-Profil. Das Resultat ist eine saubere, aufgeräumte Optik, die zudem Vorteile in Sachen Aerodynamik verspricht.

Eigener Look statt Teile-Träger

«Aus Sicht der Velohersteller ist das Hauptmotiv für eine fortgesetzte Integration, ein Produkt mit sauberer Optik und verbesserter Aerodynamik auf die Räder zu stellen, das sich von Produkten von Mitbewerbern abhebt», erklärt dazu Torgny Fjeldskaar, der als Industriedesigner schon für viele bekannte Velomarken tätig war. «Das Resultat ist ein stimmiges Produkt statt einer Plattform zur Montage standardisierter Komponenten.»

Dies steht im Gegensatz zum jahrzehntelang verfolgten Ansatz, ein Velo rund um bestehende Komponenten zu konstruieren. Als Resultat werden Velos seitens der Kundschaft oft als Ansammlung von Teilen und Komponenten gesehen. Und darum wird im Laden auch prompt nach einem «XT»-Bike oder einem Bosch-E-Bike gefragt – ein Unding aus Sicht der Velomarken.

«Aus Sicht der Velohersteller ist das Hauptmotiv für eine fortgesetzte Integration, ein Produkt mit sauberer Optik und verbesserter Aerodynamik auf die Räder zu stellen, das sich von Produkten von Mitbewerbern abhebt.»

Torgny Fjeldskaar, Industriedesigner 

Wer definiert die Grenzen des Machbaren

Während bei Rennvelos die UCI-Reglemente klare Grenzen beim Design setzen, sind es bei E-Bikes eher die Zulieferer der Hilfsantriebe und deren Bauteile. Sahen frühe Elektrovelos noch wie Eigenbauten aus der Garage aus, verschmelzen Motor, Akku und Kontrolleinheiten heutzutage immer nahtloser mit dem Rahmen oder verschwinden in selbigem.

Dazu tragen auch die Zulieferer bei, indem sie die Abmessungen ihrer Motoren reduzieren und zunehmend auf Akkus für die Montage im Rahmeninnern setzen. Genau diese können zum Problem werden: So sind Akkus mit 700 Wh Kapazität und mehr aktuell so lang, dass sie nicht in die Unterrohre der kleinsten Rahmengrössen passen. Diese werden darum mit dem nächst kleineren Akku ausgeliefert.

Eigens entwickelte Teile als Risiko

Um die Grenzen beim Design von E-Bikes zu sprengen, bieten sich zwei Wege an: Entweder man setzt auf einen Nabenmotor, wie dies Twinner, Opium oder Desiknio tun. Oder man spezifiziert kompakte, leichtere Antriebe mit kleineren Akkus, die auch in Rohre mit geringerem Durchmesser passen.

Um sich noch deutlicher von der Konkurrenz abzusetzen, verbauen manche Anbieter im Alltagssegment eigens für sie gebaute Komponenten – vom im Rahmen und Gepäckträger integrierten Licht bis zu besonderen Lenkern, Griffen und Bremshebeln. Dieser Ansatz erhöht den Wiedererkennungswert einer Marke, birgt aber auch Tücken in Sachen Reparierbarkeit. Das gilt besonders für Direktversender, die sich nicht auf den Fachhandel als Servicepartner verlassen können.

Ob mit oder ohne Hilfsantrieb: Bei Mountainbikes kommen weitere Kabel und Leitungen hinzu, für die Bedienung der Variostütze oder um das Fahrwerk vom Lenker aus zu justieren, etwa per «Twinloc»-System von Scott Sports oder mit dem «L3 Remote» von DT Swiss. Dennoch ist auch bei Mountainbikes ein klarer Trend hin zu einer möglichst konsequenten Integration der Leitungen und Kabel vom Lenker her zu beobachten.

Weil die in der Schweiz per 1. April 2022 eingeführte Taglichtpflicht auch für E-Mountainbikes gilt, kommt ein Lichtkabel hinzu, wenn ein vom Hauptakku gespeister Scheinwerfer am Lenker verbaut wird. Wie ein Mailing der schweizerischen Fachstelle für Velo und E-Bike SFVE zeigt, ist diese Nachrüstung ein Fall für die Fachwerkstatt und keineswegs unkompliziert.

 

Mehr Komplexität bei E-Bikes

Noch wilder gestaltet sich die Situation wegen der Vorschriften bei schnellen Elektrovelos, sogenannten Speedpedelecs, wie Revolt -Zycling-Produktmanager Simon Aldebert erklärt: «Ausser je zwei Schaltkabeln und Bremsleitungen gehen bei unserem Opium noch zwei Bremssignalkabel sowie je eines für das Display, die elektrische Hupe und für die Stromversorgung des Scheinwerfers vom Lenker ab – das macht neun Kabel. Je nach Markt und Modell kommen noch ein Schalter fürs Fernlicht und eine Ladebuchse fürs Smartphone hinzu und in Zukunft wohl noch Blinker und beheizbare Griffe, was das Total dann auf 15 bringt.» Fünfzehn Leitungen und Kabel, die irgendwie sauber ins Innere des Rahmens gebracht werden wollen.

«In der Werkstatt sorgt der Trend hin zu einer immer weiter reichenden Integration für Mehraufwand und rote Köpfe.»

James Huang

Und das, ohne die Funktion der Züge durch zu enge Radien zu beeinträchtigen oder am Gabelschaft zu reiben. Anbieter wie FSA, Acros und Sixpack bieten passende Steuersätze und Zubehör, die dies erleichtern. Damit wären wir bei der Kehrseite der aufgeräumten Optik.

Denn wenn Leitungen und Züge am Steuersatz und nicht schon am Lenker im Innern verschwinden, bieten die Zugänge auch Wasser und Schmutz einen Weg zu den Lagern. Dadurch können diese vorzeitig korrodieren und ihr Ersatz ist mit erheblichem Mehraufwand in der Werkstatt verbunden – und mit höheren Reparatur- und Servicekosten. Ein genauer Blick auf die Konstruktion und die Dichtungen ist daher dringend zu empfehlen.  

Rote Köpfe, hohe Rechnungen

Das bestreitet auch Designer Torgny Fjeldskaar nicht: «Modelle mit fortgeschrittener Integration sind für Velomechaniker und Hobbyschrauber oft etwas umständlich. Aus Sicht der meisten Kunden spielt das aber keine Rolle, weil die grundlegenden Einstellungen, wenn überhaupt, nur einmal beim Verkauf vorgenommen werden. Dafür bieten Modelle mit fortgeschrittener Integration oft weniger Freiheiten, wenn es um nachträgliche Umbauten geht und nach einigen Jahren kann sich die Frage nach der Verfügbarkeit von Ersatzteilen stellen.» Die exotischen Innen- und Steuerlager der Kultmarke Klein lassen grüssen.

Design oder optimale Ergonomie?

Die Tücken der Integration lauern beim Aufbau von Kundenvelos wie beim Service. Liess sich die Lenkerhöhe früher mit wenigen Handgriffen an Kundenwünsche anpassen, kann dies heute in mehrere Stunden Arbeit ausarten – inklusive des Entlüftens der hinteren Scheibenbremse und der Montage eines neuen Lenkerbandes.

Das gleiche gilt für den Tausch des Vorbaus an neuen Velos, um die Sitzposition zu optimieren: Was früher selbstverständlich Teil des Velokaufs im Fachhandel war und keine Mehrkosten nach sich zog, sorgt heute für Diskussionen. Dazu kommt, dass Vorbau-Lenker-Einheiten zwar schnittig aussehen, aber weniger Alternativen bei den Abmessungen bieten als zwei separate Bauteile. Das Streben nach einem aufgeräumten Design beisst sich mit der optimalen Ergonomie.

Was im harmloseren Fall nur die Optik ruiniert, kann bei einem im Vorbau integrierten Display als zentrale Kontrolleinheit eines Hilfsantriebs ein ganzes E-Bike lahmlegen.

In manchen Bereichen macht die Integration Sinn – etwa wenn Rücklichter gut vor Vandalismus geschützt im Gepäckträger integriert oder Displays von E-Mountainbikes kompakter und näher am Rahmen verbaut werden.

Etablierte Zulieferer dürften auch in einigen Jahren noch passende Ersatzteile bieten können, um das Velo in Schuss zu halten. Bei eigens für eine Marke entwickelten Teilen unbekannter Anbieter ist das schon fraglicher.

Was im harmloseren Fall nur die Optik ruiniert, kann bei einem im Vorbau integrierten Display als zentrale Kontrolleinheit eines Hilfsantriebs ein ganzes E-Bike lahmlegen.

Auch wenn das Bestreben vieler Velohersteller, sich durch exklusive Lösungen und eigenständiges Design von der Masse abzuheben, nachvollziehbar ist: Der Blick auf die Reparierbarkeit sollte dabei nie verloren geht. Und Zulieferer sollten auch danach ausgewählt werden, ob sie mittelfristig noch Ersatzteile liefern können. Sonst droht trotz ansprechender Optik Katzenjammer – in der Werkstatt wie bei den Konsumentinnen und Konsumenten.

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