Flyer: Von Huttwil ins Saarland

Im Herbst 2024 sorgte die Schliessung der Flyer-Produktion in Huttwil für Schlagzeilen. Seit Februar diesen Jahres werden die Modelle des E-Bike-Pioniers von Kettler im Saarland gefertigt. Velojournal war vor Ort.

Laurens van Rooijen, Autor

Laurens van Rooijen, Autor (lvr@cyclinfo.ch)
E-Bike, 15.05.2025

Ganz im Westen Deutschlands liegt die unscheinbare Kleinstadt St. Ingbert: Der Bahnhof hat schon bessere Zeiten gesehen, und die Gewerbezonen am Ortsrand sind um ein Vielfaches grösser als das Siedlungsgebiet.

Dennoch fiel der Name St. Ingbert jüngst gerade in Velofachmedien öfter. Denn in einer dieser Gewerbezonen hat die Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG) 2021 mit dem Bau einer neuen Fabrik für Kettler Alu-Rad begonnen. «Da dem Baubeginn eine längere Planungs- und Evaluierungsphase vorausging, war das definitiv kein Schnellschuss, um die pandemiebedingte, stark erhöhte Nachfrage decken zu können», stellt Jan ­Begemann klar.

Der Hamburger stiess ­Anfang 2022 zu Kettler Alu-Rad und damit zur ZEG. Bei Kettler zeichnete Begemann ­zunächst für die Bereiche Einkauf, Produktionsplanung, Produktmanagement und Qualitätskontrolle verantwortlich. Seit Februar ist er deren Geschäftsführer. 

Das neue Werk von Kettler Alu-Rad erstreckt sich über eine Fläche von 32 000 m2, wobei je 14 000 m2 auf die Fertigung und die Hochregallager entfallen. Den Rest machen Büros, der Showroom, die Kantine sowie Garderoben und Duschen aus, wie Begemann beim Gang durchs neue Werk erklärt. 

Meist automatisierte Lager

Die unlackierten Rahmen und die für die Produktion kompletter Velos und E-Bikes benötigten Teile und Komponenten werden nach der Anlieferung per LKW zunächst im Warenwirtschaftssystem erfasst und wandern dann in ein vollautomatisiertes Hochregallager. Für die Akkus der E-Bikes ist in der hintersten Ecke ein eigener Bereich ausgespart. Wenn diese Akkus einmal Feuer fangen, ist Löschen angesichts der Energiedichte Wunschdenken.

«Ausser auf Sprinkler und reduzierten Sauerstoffgehalt setzen wir daher auch auf das Prinzip der Schadensminderung durch Distanz», erklärt Begemann. So erwischt es bei einem Brand nur eine Ecke des Werks, nicht das gesamte Lager. Auch die Lackierabteilung kann sich sehen lassen. Sie zieht sich von der Vorbehandlung über die Grundierung bis zur Lackierung über verschiedene Stationen hin. Während grosse Flächen automatisch lackiert werden, erfolgt dies an schwierig erreichbaren Stellen von Hand. So arbeiten Roboter und Menschen quasi Arm in Hand. Eine von einem Querträger hängende, urige Kuhglocke erinnert daran, dass ein Teil der Technik aus der Schweiz stammt.

Ausser dem Bau der Rahmen und der Lackierung von Carbonrahmen erledigen rund 370 Angestellte von Kettler Alu-Rad am neuen Standort alle Arbeitsschritte unter dem eigenen Dach. Laut Begemann ist das ein enormer Vorteil für die Qualitätskontrolle und die Konsistenz der Fertigung. Ausser Velos und E-Bikes von Kettler werden an den insgesamt vier Montagebändern inSt. Ingbert auch Modelle der ZEG-Marken Hercules, ISY und Bulls gefertigt. Im Februar ist nun auch Flyer zum Kreis der im Saarland montierten Marken gestossen.

Ein neues Nest für Flyer-Bikes

Dass die Montagebänder aus Huttwil abtransportiert worden seien, treffe übrigens nicht zu, stellt Begemann klar. Das hätte keinen Sinn ergeben, denn in Huttwil liefen die Bänder im Kreis, in St. Ingbert hingegen in einer Linie. Jedes Band hat eine maximale Kapazität von 150 E-Bikes pro Tag, was im Einschichtbetrieb eine jährliche Kapazität von 120 000 Stück ergibt. Nach der Verlagerung der Flyer-Montage ist das Werk für das laufende Jahr nun zu über 90 Prozent ausgelastet. Wie die meisten Anbieter hat auch die ZEG mit hohen Lagerbeständen zu kämpfen. Das zeigt sich beim Gang durch das hochmoderne Hochregallager für fertig montierte Velos und E-Bikes: Hier finden 50 000 Einheiten Platz. 

Der in manchen Schweizer Tageszeitungen verbreiteten Behauptung, dass Deutsche der Schweiz ein industrielles Kronjuwel abgejagt hätten, kann Begemann nichts abgewinnen. «Das war ein rein betriebswirtschaftlicher Entscheid: Nach dem Einbruch der Nachfrage operierten unter dem ZEG-Dach zwei nur zum Teil ausgelastete Fabriken, was den Weg zur Rentabilit natürlich erschwert.» Zudem erzielte Flyer jüngst nur noch ein Viertel des Umsatzes in der Schweiz, aber gut die Hälfte in Deutschland. Da die Produktentwicklung nach wie vor komplett in der Schweiz erfolgt, ist beim E-Bike-Pionier weiterhin für etwas Swissness gesorgt. 

Hingegen geht die Ära von Andreas Kessler als CEO bei Flyer zu Ende: Im Juni übernehmen Hans-Joachim Retzlaff als Geschäftsführer und Thomas Schuster als Verwaltungsrat die Verantwortung. Retzlaff steht bereits seit eineinhalb Jahren als Sales Manager für Deutschland, Österreich und die Benelux-Region bei Flyer im Einsatz. Als Geschäftsführer soll er grosse Umstrukturierungen durchsetzen und dabei dem Motto folgen: «Die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie selbst zu kreieren».

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