Die Philosophie des elektrischen Gleitens

E-Bike-Fahrende bringen zwar weniger Watt in die Pedale als Bio-Biker. Dennoch leisten sie Grosses: Sie kämpfen gegen fiese Vorurteile und fadenscheinige Behauptungen. Eine Richtigstellung.

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Andrea Freiermuth
Kommentar, 11.05.2022

Wer des Öfteren mit dem E-Bike unterwegs ist, muss sich eine dicke Haut zulegen. Ich erinnere mich da etwa an die Begegnung mit einem jungen Tourenfahrer aus Bern. Unsere Wege kreuzten sich auf einem Campingplatz im Südtirol. Beide hatten wir dasselbe Ziel: Wir wollten ans Meer.

Der Jungspund war mir sympathisch. Bis er meinte, er könne verstehen, wenn alte oder körperlich handicapierte Menschen mit elektrischer Unterstützung fahren würden, aber bei allen anderen fände er es irgendwie lächerlich. Ich verschluckte fast das Bier, mit dem ich eben noch mit ihm angestossen hatte.

Grenzen ausloten auf dem Velo

Erzählt man etwa in Facebook-Gruppen für Radreisende von längeren Ausflügen mit elektrischer Unterstützung, so weht einem zuweilen ein noch weit rauerer Wind entgegen. Da heisst es dann schnell mal, frau würde die Philosophie des Radfahrens verkennen. Denn die bestünde ja eben gerade darin, dass man körperliche Grenzen aus eigener Kraft überwinde. Sprich: Jeder, der nicht wirklich leidet, ist eh kein richtiger Velofahrer – genau, und die weibliche Form habe ich hier im Fall bewusst weggelassen.

«Ich verschluckte fast das Bier, mit dem ich eben noch mit ihm angestossen hatte.»

Der klassische E-Bike-Hasser ist männlich, durchtrainiert und uneinsichtig. Gerne bringt er auch das Akku-Argument: Kobaltminen, Kinderarbeit und so. Kommt vor, aber argumentieren damit dürfen eigentlich nur jene, die wirklich immer mit Bio-Bike und ÖV unterwegs sind.

Alle anderen blenden einfach aus, welch unschöne Nebenwirkungen fossile Treibstoffe mit sich bringen. Die Arbeitsbedingungen in Kobaltminen könnte man ändern, CO2 hingegen ist und bleibt ein Treibhausgas und heizt als solches den Planeten auf. 

«Der klassische E-Bike-Hasser ist männlich, durchtrainiert und uneinsichtig.»

Mit diesem Gegenargument konfrontiert, weicht der E-Bike-Kritiker dann gerne auf die Energiequelle aus: Würden alle nur noch aufs E-Bike hocken, müsse man neue AKWs bauen. Wer das behauptet, hat weder eine Ahnung von Pedelecs – noch von Physik und Kochen.

Denn mit einem Akku von 600 Wattstunden lassen sich bei mittlerer Unterstützung in der Regel problemlos 50 Kilometer und 1000 Höhenmeter bewältigen. Und das ist in etwa so viel Energie, wie man benötigt, um einen Topf Spaghetti zu kochen.

Dank E-Bike können heue alle Velo fahren

So wie nicht alle täglich Rohkost essen mögen, möchten sich auch nicht alle ständig am Berg kasteien oder verschwitzt im Büro ankommen: Das E-Bike hat das Velofahren demokratisiert. Dank elektrischer Unterstützung können und wollen heute alle Velo fahren: Dicke und Dünne, Junge und Alte, Athletische und Phlegmatische – und das ist super so. 

Aber damit eines klar ist: Zu den Alten gehöre ich definitiv noch nicht. Denn auf dem Weg an die Adria habe ich mit meinem Flyer zwischen Bozen und Triest keinen einzigen Pass ausgelassen, während der krittelnde Jüngling mit seinem Tourenvelo via Gardasee und Poebene nach Venedig rollte – wahrscheinlich mit Westwind.  

«Dank elektrischer Unterstützung können und wollen heute alle Velo fahren. Und das ist super so.»

Und was beweist das? Dass selbst E-Bike-Fahrerinnen nicht davor gefeit sind, ab einer gewissen Anzahl an Kilometern und Höhenmetern in testosterongeschwängerte Unarten zu verfallen und mit ihren Leistungen zu prahlen – und sei es auch nur die, immer rechtzeitig eine Steckdose gefunden und die allgemeine Reichweitenangst erfolgreich überwunden zu haben.  

Andrea Freiermuth ist Leiterin Kommunikation & Events bei Pro Velo Kanton Zürich. 2018 fuhr sie mit einem Flyer «Upstreet 5» nach China.