Velo ohne Grenzen

Ältere Menschen und Personen mit Einschränkungen oder schlechtem Gleichgewicht kommen auf Zweirädern schnell an ihre Grenzen. Da können Spezialvelos wie Dreiräder Abhilfe schaffen und zu mehr Selbstständigkeit verhelfen.

Julie Nielsen, Redaktorin (julie.nielsen@velojournal.ch)
News, 16.10.2024

Velofahren ist gesund und macht Spass. Pedalieren ist gelenkschonend und bringt den Kreislauf in Schwung. Doch nach einem Unfall oder mit neuromuskulären Krankheiten – oder ganz einfach aufgrund von Alterserscheinungen – ist es nicht so einfach, stabil auf einem Velo zu fahren.

Wenn es mit dem Zweirad nicht mehr geht, heisst das aber nicht, dass man aufs Velofahren verzichten muss. In diesem Fall können nämlich Tricycles, Spezialvelos mit drei Rädern zum Einsatz kommen. Die Dreiräder sind so vielfältig wie ihre Fahrerinnen und Fahrer.

Selbstständigkeit dank Spezialvelo

Ein Spezialvelo kann ein Stück Selbstständigkeit und Lebensqualität zurückgeben, weil der Fahrer oder die Fahrerin deutlich mobiler wird. Doch viele koste es Überwindung, sich auf ein Dreirad einzulassen, weiss Regula Glättli, Geschäftsführerin des E-Motion Dreiradzentrum in Hombrechtikon. «Sie wollen nicht behindert aussehen.»

Deshalb kommen viele mit dem Wunsch nach einem Shopping-Dreirad zu ihr in den Laden. Dieses ähnelt einem klassischen Velo am meisten. Statt einem fasst der Rahmen hinten zwei Räder und dazwischen ist ein grosser Velokorb montiert, der Platz für mindestens drei Migrossäcke einräumt.

«Das Shopping-Dreirad ist schwierig zu fahren. Das muss man wirklich üben. Viele Personen haben das Gefühl, das Velo habe eine Schlagseite. Für die meisten ist ein Shopping-Dreirad nicht das richtige Dreirad», erklärt Glättli.

Es brauche schon etwas Überzeugungsarbeit, damit sich die Kunden auch auf andere Dreiräder einliessen. Doch wer einmal auf dem passenden Dreirad gesessen habe, wolle es nicht mehr missen. Eine richtige Beratung sei deswegen unerlässlich.

«Es braucht Überwindung, sich auf ein Dreirad einzulassen. Viele Personen wollen nicht "behindert" aussehen.»

Regula Glättli

Potenzielle Kunden

Sehr viele von Glättlis Kundinnen und Kunden haben neuromuskuläre Krankheiten wie Multiple Sklerose, Parkinson oder Neuropathien. Aber zur Kundschaft gehören auch Unfallopfer, Personen mit Amputationen, fehlenden Gliedmassen oder angeborenen Abnormitäten. Und immer häufiger auch Personen mit Gehbehinderungen, Gleichgewichtsstörungen, tauben Füssen und ähnlichen Gebrechen.

Für fast alle, lasse sich eine Dreiradlösung finden. «Bei Personen, die einen Schlaganfall hatten, wird es schwierig», schränkt Glättli ein. «Manche Menschen sind dann einfach nicht mehr fahrtüchtig. Sie haben ein zu eingeschränktes Sichtfeld nach dem Schlaganfall. Solchen Kunden verkaufen wir kein Dreirad. Was diese Personen am wenigsten brauchen, ist ein weiterer Schicksalsschlag in Form eines Unfalls.» Aber ein Tandem käme für Personen mit Sehbeeinträchtigung auf jeden Fall infrage.

Es gibt für jeden das richtige Dreirad

Es gibt verschieden Dreiradtypen. Zum Beispiel das sportliche Liegedreirad, Rollstuhltransport-Velos, Tandems oder das Therapievelo. Am häufigsten verkauft werden die Sesseldreiräder. Man sitzt sehr bequem und stabil und durch die leicht zurückgelehnte Sitzposition und etwas erhöhten Pedalen wird der Kraftaufwand geringer und der Rücken und die Handgelenke werden weniger belastet.

Ist entschieden, welches Modell am besten zur Kundin oder zum Kunden passt, wird das Dreirad individuell auf die Bedürfnisse angepasst. Von Stockhaltern über breiteren Pedalen, von denen die Füsse nicht abrutschen können, bis zu automatischen Gangschaltungen samt Daumengas, falls es vorkommen kann, dass den Fahrer oder die Fahrerin unterwegs die Kräfte verlassen ist, alles dabei. Auch können die Velos so aufgerüstet werden, dass sie einhändig bedient werden können.

Ein Problem sieht Regula Glättli aber bei der Gesetzgebung. Die Dreiräder fallen im Verkehrsgesetz unter die Kategorie E-Bikes. Ein E-Bike darf aber inkl. Fahrer oder Fahrerin maximal 200 Kilo wiegen. Bei schwergewichtigen Personen ab 130 Kilo sei diese Grenze schnell ausgereizt. Die 200-Kilo-Grenze gilt auch für Tandems.

Neues Lebensgefühl

Wie viel ein Spezialvelo bewirken kann, sieht die Velohändlerin regelmässig an den Rückmeldungen ihrer Kunden. «Das Velo hat mir das Leben gerettet» oder «Sie haben uns ein neues Lebensgefühl geschenkt» steht auf den Dankeskarten an das Team des Dreiradzentrums.

Wenn der jährliche Service ansteht, kommt häufig die Rückmeldung: «Ich brauche ein Ersatzvelo, sonst kann es nicht in den Service», erzählt Glättli. Kunden berichten auch von einem besseren Allgemeinzustand. Die Bewegung hilft und verbessert die Fitness. Vor allem bei unter Multipler Sklerose leidenden Personen scheint die Drehbewegung beim Pedalieren die Muskelspasmen zu lindern.

Und wer bezahlt das?

Dreiräder kosten in der Anschaffung mehrere Tausend Franken bis in den fünfstelligen Bereich und sind somit nicht für alle erschwinglich. Es lohnt sich deshalb, Stiftungen, die Einwohnergemeinde oder die IV um Unterstützung anzufragen. Allerdings ist es ohne IV praktisch unmöglich, Unterstützungsgelder zu erhalten. Auch bei Stiftungen wie Pro Infirmis.

Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Hilfsmittelberatung
Bevor man bei der IV anfragt, ist es sinnvoll, sich an die Hilfsmittelberatung zu wenden. Dort wird man ausgiebig beraten in Bezug auf Hilfsmittel und entsprechend weiter verwiesen.

IV
Wer eine Verschreibung für einen Elektrorollstuhl hat und im ersten Arbeitsmarkt tätig ist, kann bei der IV ein Hilfsmittel-Gesuch für Gehmittelersatz stellen. Anstelle des Rollstuhls bezahlt die IV teilweise bis zu 7500 Franken für ein Dreirad, wenn es helfen kann, der beruflichen Tätigkeit nachzukommen. Hausfrau gilt ebenfalls als Beruf.
Wer für die Familie Besorgungen machen muss, und dies nur mit Velo kann, bekommt das Dreirad in der Regel bewilligt, wenn die Person kein Auto hat bzw. nicht fahren kann/darf. Ein Arztzeugnis ist von Vorteil.

Stiftung Celebral
Wer einen Ausweis der Stiftung Cerebral hat, kann günstig Spezialvelos mieten. Bei einem Kauf kann die Stiftung einen Beitrag zahlen.

Pro Infirmis
IV-Beziehende können bei Pro Infirmis ein Finanzierungsgesuch stellen, wenn das Velo anstelle eines Autos für den Arbeitsweg genutzt werden soll. Gesuchstellende dürfen nicht mehr Vermögen als 10’000 Franken besitzen und müssen bei einem kleinen Vorgespräch die finanzielle Situation komplett offenlegen. Je nachdem kann Pro Infirmis den vollen Preis oder eine Teilfinanzierung übernehmen.

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