Dominic Redli,
Autor
(redli@cyclinfo.ch)
News,
Kultur,
10.06.2024
Die europäische Fertigung ist so alt wie das Velo selbst. Zwei Jahrhunderte lang wuchs sie zu einer glanzvollen Industrie heran, bis ihr das Mountainbike den Garaus machte.
Dominic Redli,
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(redli@cyclinfo.ch)
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10.06.2024
Einen Monat nach Karl von Drais’ Erfindung, im Juli 1817, berichteten Zeitungen in England und den USA über das neuartige Gefährt, woraufhin sich in ganz Europa Tüftler darauf stürzten.
Innert kurzer Zeit waren mehrere Tausend Kopien der «Draisine» unterwegs, dem Urlaufrad aus Holz – das Patentrecht war damals noch kaum entwickelt. Auch in der Schweiz wurde das neue Fortbewegungsmittel umgehend nachgebaut.
Das Velo wurde zu einem Haupttreiber der industriellen Entwicklung Europas: Denn die Raffinesse der Konstruktion von Drais’ – und ihrer Verbesserungen durch englische und französische Ingenieure – ermöglichten erst die späteren bahnbrechenden Innovationen Auto und Flugzeug.
Einen Meilensteil in der Fahrradentwicklung legte der französische Wagenbauer Pierre Michaux. Bei der Weltausstellung 1867 in Paris stellte er erstmals ein Velo mit Tretkurbel vor. Zwei Jahre später produzierte Michaux jährlich 200 Stück und gehört damit zu den ersten europäischen Serienherstellern.
Helden der 1950er: Ferdy Kübler (links) und Hugo Koblet. Mit Tebag und Cilo waren beide auf Schweizer Velos unterwegs. (Foto: Cyclinfo)
Ab 1870 kam durch den Deutsch-Französischen Krieg die Wirtschaft – und damit auch Europas grösste Veloproduktion – in Frankreich zum Erliegen. Gleichzeitig baute in England der Nähmaschinenkonstrukteur James Starley das erste Hochrad aus Stahl.
Das Hochrad erwies sich aber als nicht massentauglich. Unfälle damit waren an der Tagesordnung und das Gefährt wurde vom Volksmund als «Knochenbrecher» verpönt. Gegen Ende der 1870er-Jahre entstand das «Sicherheitsniederrad», das auf kleinere Räder setzte, damit der Fahrer mit den Füssen den Boden erreichen und gefahrlos anhalten konnte.
Voraussetzung dafür war ein funktionstüchtiger Antriebsstrang, sprich die Velokette. 1880 liess der Aarauer Hans Renold seine Erfindung, die Rollenkette, in England patentieren. Wenige Jahre später widerrief er den Kopierschutz und stellte seine Idee den Fahrradherstellern zur freien Produktion zur Verfügung.
1890 erhielt der Fahrradrahmen seine Diamantform und damit zuverlässige Stabilität. Der zeitgleich vom Briten John Dunlop erfundene Luftreifen hob den Fahrkomfort auf ein neues Niveau.
«Auf dem Höhepunkt der Veloproduktion verliess alle sieben Sekunden ein Zweirad die Opel-Fabrik und die jährliche Gesamtkapazität betrug zwei Millionen Stück.»
Bei Jeker, Haefeli & Co in Balsthal war man stolz auf die eigenen Stahlrahmen. (Foto: Cyclinfo)
Diese Innovationen führten dazu, dass das «Niederrad» immer populärer wurde. Denn es brachte der breiten Bevölkerung erstmals Mobilität.
So kam es Ende des 19. Jahrhunderts zum wohl ältesten Veloboom, das Fahrrad war zum erschwinglichen Massenprodukt geworden.
Mit der Nachfrage wuchsen europaweit Volumenproduzenten heran, allen voran Opel. Im Herbst 1887 begann das deutsche Unternehmen, das ursprünglich Nähmaschinen produzierte, die ersten Hochräder in der eigenen Fabrik zu bauen.
Rasch wurde die Produktpalette ausgeweitet: Ausser Hochrädern stellte Opel auch Niederräder und Dreiräder für den Lastentransport her.
Zehn Jahre später verliessen insgesamt bereits 15’000 Stück die Fertigung in Rüsselsheim. Es war die erste Blütezeit der europäischen Veloindustrie.
Mondias Erfolge im Radrennsport befeuerten die Absätze. Das Team 1971 vor einem Rennen in den Niederlanden. (Foto: Cyclinfo)
Ein Brand im Werk zerstörte 1911 die Nähmaschinenfabrikation, woraufhin Opel auf die Produktion von Velos (und Autos) fokussierte und ein Jahr später bereits 30’000 Einheiten ausstiess. Durch die Umstellung auf die Serienfertigung wurde Opel Mitte der Zwanzigerjahre zum weltgrössten Hersteller. Auch Fahrräder mit Hilfsmotor wurden gebaut.
Auf dem Höhepunkt der Veloproduktion verliess alle sieben Sekunden ein Zweirad die Opel-Fabrik und die jährliche Gesamtkapazität betrug zwei Millionen Stück. Möglich machte das die Einführung des Fliessbands. Damals vertrieben weltweit mehr als 15’000 Händler die Velos aus Rüsselsheim.
Aber auch die Schweizer Branche kam in die Gänge. Die Qualitätsrahmen der heimischen Stahlverarbeiter waren gefragt. Dazu gehörten etwa die 1894 gegründete Bieler Firma Cosmos, die 1905 das erste Schweizer Ordonnanzrad fertigte oder die Nidauer Zesar AG.
Gleichzeitig wuchs die Zahl der heimischen Handelsbetriebe und Velomarken. Darunter die 1898 ins Leben gerufene Komenda AG, der mit den Alpa-Werken die älteste bis heute bestehende Schweizer Velomanufaktur gehört. 1918 stiegen «Jeker, Haefeli et Cie» in Balsthal ins Importgeschäft ein. Ab 1933 montierte das Unternehmen eigene Velos, die unter dem Namen «Mondia» populär wurden. Ein Jahr später erschien im Zürcher Markenregister erstmals der Name «Tour de Suisse Velos», die heutige TdS Rad AG.
Während die Branche in der Schweiz im Aufwind war, rutschte die deutsche Industrie, die während des Ersten Weltkriegs auch Rüstungsgüter produzierte, zusehends in die Krise. Die Gründe dafür waren vor allem die Motorisierung des (öffentlichen) Verkehrs sowie die zunehmende Verschlechterung der Wirtschaftslage.
Diese war begleitet von einer massiven Inflation: Kostete ein Velo in Deutschland 1914 noch 145 Reichsmark, so war es 1922 das Zehnfache und 1923 unglaubliche 2.5 Millionen Reichsmark. Die Nachfrage brach ein und die stolze deutsche Fahrradindustrie blieb auf ihrer Produktion sitzen.
Manche Hersteller gerieten in Finanznot. So etwa die Diamantwerke, die von Opel übernommen und vor der Insolvenz gerettet wurden. Wie die «Neue Zürcher Zeitung» im Februar 1930 schrieb, wurde damals «in den Kreisen der deutschen Fahrradindustrie nach Massnahmen gesonnen, eine durchgreifende Sanierung herbeizuführen».
Auch ein «Zusammenschluss aller bedeutenden Fahrradwerke» wurde diskutiert, um ihre Rentabilität zu garantieren. Daraus wurde aber nichts und bei Opel gehörte die Zukunft nicht mehr dem Fahrrad, sondern dem Auto. 1937 lief das letzte Velo vom Band des einst grössten europäischen Herstellers.
Bild 1: Bei Villiger in Buttisholz wurden bis 2002 Stahlrahmen in Muffenbauweise gefertigt. Bild 2: Schweizer Produktion Mitte der Siebziger. (Fotos: Cyclinfo)
Nach Ende des Zweiten Weltkrieg war das Fahrrad wieder in ganz Europa begehrt. In vielen zerstörten Städten war es das einzige Transportmittel und diente dem Wiederaufbau, die hiesige Produktion zog wieder an: Anfang der Fünfzigerjahre bauten die Diamantwerke, die zu dieser Zeit kurzfristig Eigentum der Sowjetunion waren, wieder jährlich 200’000 Velos, die deutsche Industrie insgesamt zwei Millionen.
Währenddessen wurden in Italien 600’000 Stück fabriziert. Zu den Treibern gehörte auch das Rennvelo. Schon bald waren die heimischen Märkte wieder gesättigt, woraufhin die europäischen Hersteller vermehrt auf das Exportgeschäft zielten – allerdings nicht zur Freude aller: 1955 verhängte US-Präsident Eisenhower Strafzölle auf die steigenden Veloeinfuhren aus Deutschland, Grossbritannien und Österreich.
Die Begründung: mit den leichten Sportfahrrädern aus Übersee könne die heimische Industrie nicht konkurrenzieren und sei bedroht. Tatsächlich hatten sich die Importe innert eines Jahres von 500’000 auf 900’000 Stück beinahe verdoppelt. Mehr als die Hälfte stammte aus britischen Fabriken.
So pendelte sich der Veloausstoss der europäischen Fabriken auf tieferem Niveau ein, bis in den frühen Siebzigerjahren die Ölkrise sowie das steigende Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein den nächsten Fahrradhype auslösten, der rund zehn Jahre andauern sollte: Von 1971 bis 1981 verdoppelte sich die Anzahl der damals noch mit Velonummer eingelösten Velos in der Schweiz auf mehr als zwei Millionen.
«1988 gab es neun Schweizer Rahmenhersteller. Im Inland wurden noch 300'000 Velos produziert.»
Die stattlichen Zahlen zogen auch das Interesse eines Tabakunternehmens auf sich: 1980 diversifizierte Villiger mit dem Kauf der Buttisholzer Velofabrik Kalt ins Fahrradgeschäft, beteiligte sich an den deutschen Diamantwerken, übernahm den Koga Miyata Vertrieb und wurde innert eines Jahrzehnts mit einem Absatz von 42’000 Stück zur Nummer zwei im helvetischen Velomarkt.
Bild 1: Die Bieler Stahlrahmen von Cosmos waren beliebt. Bild 2: 1946 im niederländischen Dieren bei Gazelle. (Fotos: Cyclinfo)
1987 wurden in der Schweiz noch 280’000 Velos hergestellt. Dazu kamen 105’000 Importe. 1988 florierte das Geschäft, die heimische Produktion wuchs um weitere 20’000 Stück. Derzeit gab es noch neun Velohersteller, die auch eine eigene Rahmenproduktion besassen: Allegro, Alpa-Werke, Cilo, Condor, Cosmos, Gretener, Jeker & Haefeli und Villiger.
Im Zuge des Mountainbike-Booms gerieten diese jedoch immer mehr unter Druck. Mit der Internationalisierung des Velos begann in Europa die Glanzzeit der Importeure: Zählte der Schweizer Zoll 1980 noch 10’000 Einfuhren, waren es 1991 mehr als 300’000. Folglich stellten immer mehr Inlandproduzenten ihre Marken ein und bis in die frühen 2000er-Jahre war die traditionelle europäische Stahlrahmenproduktion von den günstigeren Alufabrikanten aus Fernost fast komplett verdrängt worden.
Im Zuge der zunehmenden Automatisierung von Fabriken zeichnet sich jüngst aber eine Renaissance der herstellenden Industrie in Europa ab.
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