«Wir sollten den Strassenraum besser nutzen»

Der Direktor des Bundesamts für Strassen möchte den Veloanteil verdoppeln, eine Helmpflicht für langsame E-Bikes einführen und Autoparkings am Stadtrand. Wie er das machen will, erklärt er im Gespräch mit Velojournal.

Pete Mijnssen ist Chefredaktor des Velojournals.

Pete Mijnssen, Chefredaktor (pete.mijnssen@velojournal.ch)
News, 03.06.2024

Velojournal: Das Bundesamt für Strassen Astra will den Anteil des Veloverkehrs am Gesamtverkehr in der Schweiz bis 2035 von 2 auf 4 Prozent verdoppeln. Mit dem ebenfalls zunehmenden motorisierten Verkehr ist das aber ein Nullsummenspiel, finden Sie nicht?

Jürg Röthlisberger: Die Verkehrsprognosen 2050 gehen von einer Verdoppelung des Anteil Velos aus. Mit der «Roadmap Velo» haben wir uns aber zum Ziel gesetzt, dieses Ziel schon 2035 zu erreichen. Dieses Wachstum mag klein erscheinen, das Ziel ist aber hochgesteckt. Dahinter stecken Millionen an Investitionen! In relativen Zahlen verzeichnen die Verkehrsperspektiven beim Auto eine Abnahme von 5 Prozent.

Wurde auch berechnet, welche Einsparungen beim Autobahnausbau gemacht werden könnten, wenn der Velo-Pendlerverkehr von heute 9 auf 18 % verdoppelt würde?

Seit 2021 gehören zusätzliche 400 Kilometer Kantonsstrassen zum Nationalstrassennetz und fallen damit in die Obhut des Bundes. Auf diesen Strassen führt das Astra Korridorstudien durch. Die Kantone haben grosse Erwartungen an den Ausbau dieser Strassen. Hier kommt das Velo ins Spiel. Zum Beispiel im Laufental: Dort braucht es Entflechtungen und Verbesserungen für den Veloverkehr und gleichzeitig auch die eine oder andere Ortsumfahrung.

Die Strassen sollen also velofreundlicher werden?

Ja, und zwar zum Vorteil aller. Dazu ein weiteres Beispiel: Die absolute Horrorvorstellung für LKW-Fahrerinnen oder Spediteure ist es, ein Kind oder eine erwachsene Person auf dem Velo zu überfahren. Mehr und bessere Veloinfrastruktur hilft also auch dem motorisierten Verkehr. Auch deshalb setzt sich das Astra stark dafür ein.

«Das Elektrovelo ist eine tolle Sache, die Beschleunigung macht aber etwas mit uns Menschen. Wir müssen das Bewusstsein für diese Gefahren stärken und zu einer vorsichtigeren Fahrweise animieren.»

Auf diesen Kantonsstrassen gibt es viele Verkehrskreisel. Und hier ereignen sich vierzig Prozent aller Velounfälle. Was unternimmt das Astra dagegen?

Analysen zeigen, dass Unfälle vor allem bei nicht normgerecht gebauten Kreiseln passieren. Eine sorgfältige Projektierung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine sichere Infrastruktur. Im Optimalfall sehen bauliche Massnahmen eine Entflechtung vor. Leider ist es aber nicht überall möglich, einen Kreisverkehr zu entflechten und Velos anders über den Kreisel zu führen. Weiter gibt es im Bereich der Fahrzeuge interessante Entwicklungen zur Erhöhung der Sicherheit: Sensoren in neuen Autos tragen zur Unfallverminderung bei. Ein guter Ansatz sind auch Präventionskampagnen. Ein Beispiel dafür ist jene des Kantons Basel-Stadt: Vor dem Kreisel sind Plakate aufgestellt, die auf das richtige Verhalten hinweisen. Zudem gibt es begleitende Kommunikationsmassnahmen im Internet. Schlussendlich müssen wir uns folgendes bewusst sein: Das Elektrovelo ist eine tolle Sache, die Beschleunigung macht aber etwas mit uns Menschen. Wir müssen das Bewusstsein für diese Gefahren stärken und zu einer vorsichtigeren Fahrweise animieren.

Das Thema Beschleunigung bei Elektroautos ist aber deutlich akzentuierter …

… da haben Sie recht. Hier müssen wir zukünftig auch über Beschleunigungslimiten diskutieren können. Elektroautos sind dank Leasing für eine breite Bevölkerungsschicht erhältlich. Ein Tesla mit 1000 PS beschleunigt schon heute von 0 auf 50 km/h in gut einer Sekunde. So ein Auto ist in den falschen Händen eine Waffe. Es ist daher wichtig, dass jeder Verkehrsteilnehmende sein Fahrzeug kennt – das gilt sowohl für den Autofahrer wie für die E-Bike-Fahrerin.

Gibt es mehr Unfälle mit solchen (E-)Autos?

Es gibt eine britische Studie, der zufolge Elektroautos ein grösseres Unfallrisiko für Fussgänger darstellen als Verbrenner. Diese Studie hat aber Zahlen zwischen 2013 und 2017 untersucht. Unsere Unfallstatistik lässt keine solche Rückschlüsse zu. Fakt ist aber auch, dass Elektroautos gerade bei langsamem Tempo weniger Geräusche machen. Seit Juli 2019 müssen daher alle Elektroautos mit einem akustischen Warnsystem ausgestattet sein. Die Entwicklung muss dennoch im Auge behalten werden.

«Ein Tesla mit 1000 PS beschleunigt schon heute von 0 auf 50 km/h in gut einer Sekunde. So ein Auto ist in den falschen Händen eine Waffe.»

Könnte eine Drosselung der Beschleunigungswerte auch bei schnellen E-Bikes ein Ansatz zur Unfallreduktion sein?

Diese gesetzliche Limite gibt es bereits heute, indirekt über die maximal zulässige Leistung. E-Bikes müssen potent sein, wenn sie als Ersatz für andere Verkehrsmittel dienen sollen. Mit Sensibilisierung und Prävention erreichen wir mehr, als wenn «künstlich» ins Tempo der E-Bikes eingegriffen wird. Allerdings muss über eine Helmpflicht diskutiert werden, auch für langsame Elektrovelos.

Das ist alles andere als eine neue und auch umstrittene Forderung!

Ich weiss. Und wir hatten damit bislang keinen Erfolg. Allerdings sind 85 Prozent der E-Bikes auf unseren Strassen solche mit Unterstützung bis 25 km/h. Die grosse Mehrheit der E-Bike-Fahrenden muss also keinen Helm tragen, wäre aber bei einem Unfall mit Helm deutlich besser geschützt.

Müsste nicht stärker auf eine fehlerverzeihende Infrastruktur anstatt eine Helmpflicht gesetzt werden?

Es braucht beides. Wenn wir mit der BfU oder Unfallchirurgen des Berner Inselspitals sprechen, hören wir immer wieder: Es braucht eine Velohelmpflicht. Mehrheitsfähig ist das heute nicht, diskutiert werden muss die Forderung dennoch. Und eine flächige Verbesserung der Veloinfrastrukturen braucht seine Zeit.

Verkehrsdrehscheiben sind momentan das grosse Verkehrsplanungs-Thema. Nun haben Sie gesagt, gerade die Städte seien dagegen. Können Sie das erklären?

Wir sagen seit sieben Jahren, dass wir in der Schweiz ein Netzübergangs- und Netzhierarchieproblem haben. Egal ob Wasser-, Strom- oder Gasnetz; es braucht überall eine Netzhierarchie. Das gilt auch für den Verkehr. Beim Strassennetz braucht es etwa fünf bis sechs Hierarchiestufen. Heute haben wir aber nur noch zwei bis drei. Das heisst: Häufig geht es aus einem Hochleistungsnetz wie der Autobahn direkt auf Tempo 30 runter. Wir müssen darum darüber diskutieren, warum Parkplätze – wie in Bern, Luzern oder Zürich – dort sind, wo die Städte den Verkehr nicht (mehr) wollen. Sprich, mitten im Zentrum. Warum sind sie nicht an der Peripherie? Das wollen die Städte aber oft nicht, denn die Zentrums-Parkplätze und -Parkhäuser spülen viel Geld in ihre Kassen.

«Mit Sensibilisierung und Prävention erreichen wir mehr, als wenn «künstlich» ins Tempo der E-Bikes eingegriffen wird. Allerdings muss über eine Helmpflicht diskutiert werden, auch für langsame Elektrovelos.»

Es braucht also ein Umdenken auf allen Stufen, wenn wir die Städte und Dörfer der künftigen 10-Millionen-Schweiz vom motorisierten Verkehr entlasten wollen?

Der Verkehr der Zukunft wird weit verträglicher sein als heute: Elektroautos verkehren CO2-neutral, automatisierte Fahrzeuge werden die bestehenden Strassen besser nutzen. Dennoch: Den Strassenraum brauchen wir auch in Zukunft und wir brauchen punktuell auf den Autobahnen sogar noch etwas mehr. Parallel dazu müssen wir den vorhandenen Strassenraum unbedingt auch besser nutzen. Versorgungs- und Handwerker-Verkehr wird es immer geben. Und auch ein Drittel des öffentlichen Verkehrs fährt auf Strassen. In den Agglomerationen sollten wir den Autoverkehr aber besser und effizienter organisieren, zum Vorteil aller Beteiligten. Daran müssen alle arbeiten, wir als Astra und die Städte und dies möglichst zusammen.

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