Der Velojournal Adventskalender

Gerne entdecken Schweizerinnen und Schweizer Hauptstädte ihrer Nachbarländer. Im Fall von Wien müssen sie aber zuerst die ganze Alpenrepublik über Hügel durchqueren. Das erhöht den Reiz der Übung.
Die Schweiz samt den ersten sechs überwundenen Bergen auf unserer Reise liegt hinter uns. Von Wildhaus blicken wir hinüber zu den bewaldeten Kuppen Vorarlbergs jenseits des Rheins. Sie ragen in den Himmel, mit mächtigen Quellwolken bekommen sie etwas Geheimnisvolles, ja sie werden in der Radlerfantasie zu den sieben Bergen des Märchens. Zu diesen sieben Bergen, durch sie hindurch wollen wir reisen und hinter ihnen Berg um Berg erobern, bis wir an der Donau sind.
Als wir in Liechtensteins Rheinebene auf der Velopiste rollen, nähert sich uns schnell, schneller als wir, also sehr schnell, ein seltsames Phänomen, das uns zuerst vorkommt wie eine Fata Morgana. Es ist ein Mann auf Rollschuhen der Formel-1-Rennklasse, der sich nicht nur in eleganten Tanzschritten vorwärtsbewegt, sondern auch einen kräftigen Kampfhund vor sich an der Leine hält, der mit seinem Schnelllauf die Geschwindigkeit des Gespanns noch erhöht. So etwas haben wir noch nie gesehen. An der Wasserstelle kommen wir mit dem Roller ins Gespräch, der Hund stellt sich als ganz umgänglich heraus. Der Roller, samt Foulard sportlich knapp und elegant gekleidet, fragt nach unserer Reise, wir erkundigen uns nach seiner. Er sagt, so auf Rollschuhen mit seinem Hund Bobby fahre er in einem Tag locker rund um den Bodensee herum.
Jetzt interessiert er sich für unsere Kleidung, fragt einen der Radler, was er denn da, unter dem Maillot, für ein funktionales Schwitzleibchen trage. Der Radler sagt es ihm, nennt die Marke, der Roller nähert sich ihm, schwärmt mit süsser Stimme von eben dieser Marke und beginnt, ungeniert am Brusttuch des Radlers herumzufummeln. Es folgt eine intensive Befragung zur sonstigen Radlerunterwäsche mit weiteren Fummeleien, doch alles geschieht in höflichster Eleganz. Wir sind überrascht und amüsiert. Kurz bevor der Roller unseren Radler elegant darum bittet, sich doch gleich auszuziehen, oder es selbst tut, fahren wir hinüber nach Vorarlberg. Man sollte auf Reisen immer mit Menschen sprechen, die auf anderen Rädern als wir unterwegs sind.



Das westliche Österreich hat alemannisch-alpine Verwandtschaften mit den Schweizer Nachbarn, doch wenn Letztere hierherkommen, lassen sie sich überraschen von den kleinen Unterschieden, etwa in der Sprache des Alltags oder bei geografischen Bezeichnungen, die ihnen zuweilen verspielt und lustig vorkommen. Um den Weg von Rankweil zum Furkajoch zu finden, folgen sie den Dörfern Laterns, Inner Laterns und Bad Laterns, fahren im Tal den Bach entlang, und der heisst Frutz. In Au Vorarlberg ist eine prächtige Herberge, das Hotel Das Schiff in den Bergen. Dieses Schiff ankert nahe an der Bregenzer Ach, und die rauscht so mächtig, dass der Gast, welcher vor lauter Getöse, ach, ach!, den Schlaf nicht findet, spätestens um Mitternacht das Fenster schliesst.
Es ist, als ob die Ortsnamen an den Pässen die Mühen von uns Radlern schon ahnten. Dort, wo die Steigung zum Hochtannbergpass am schärfsten wird, heisst das Dorf Schröcken. Als wir in der Auffahrt zum Hahntennjoch fast schlappmachen, kommen wir ins Dorf Bschlabs, wo es zum Glück ein Gasthaus gibt. Kurzum: Furkajoch, Hochtannbergpass und Hahntennjoch sind nicht sehr hoch, haben aber lange, anspruchsvolle Rampen. Dennoch werden wir im nächsten Bundesland, in Tirol, übermütig. Statt durchgehend dem Inn entlang ostwärts zu fahren, wählen wir zwei Schlenker.
Der erste führt über den Kühtai-Sattel. Der ist auch eine Industrielandschaft des Skitourismus. Im Sommer stehen all die Transportanlagen still, die Fensterläden der Bettenburgen und die meisten Läden sind geschlossen, die Gaudistationen zugenagelt, es herrscht eine scheintot-gespenstische Stille; das einzig Lebendige sind die Kühe auf den Weiden ringsum. Man schaut sich die Szenerie an und fühlt sich erinnert an die Fotos des berühmten Tirolers Lois Hechenblaikner, der diese Retortenorte, im Winterbetrieb wie im Sommerschlaf, touristische Intensivstationen nennt.
Der zweite Schlenker führt auf die Zillertaler Höhenstrasse. Dort sind die Kehren so steil, dass sich nur wenige motorisierte Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer auf sie wagen, und so haben wir Radler unsere Ruhe. Die Sonne brennt intensiv vom Himmel herab, es ist windstille dreissig Grad warm, über lange Rampen steigt die Strasse zwanzig Prozent steil direkt in den Himmel hinauf. Sind wir also auf einer Himmelfahrt? Wir, abgesehen von ein paar tollkühnen Elektro-Herrschaften die einzigen drei Radler ohne Batterie, erreichen die erste Kuppe. Die Veloschuhe sind jetzt glühende Schraubstöcke, wir nehmen ein Fussbad. Göttlich.


Österreich unternimmt seit dreissig Jahren einiges für den Velotourismus, der ja auch ein gutes Geschäft ist. Über weite Strecken stehen mehr oder weniger parallel zu den Bundesstrassen gute Velopisten zur Verfügung, die wir oft und gerne benutzen. Wenn uns ihre Schlenker zu umständlich scheinen, kommen wir aber lieber auf der Bundesstrasse vorwärts. So auch auf der Bundesstrasse 161 von Mittersill über den Pass Thurn nach St. Johann. Der motorisierte Verkehr ist intensiv, ätzend und nervig. Doch schau, schau, gleich hinter dem Pass biegt ein Traktor samt Anhänger mit Baumstämmen vor uns auf unsere Strasse ein. Wir geben etwas Druck, und schon sind wir im Windschatten des Holztransports. Hinter uns bildet sich eine lange Autoschlange, der Traktor zieht uns mit vierzig Sachen bis St. Johann in Tirol, wo wir rechts auf die ruhigere Landesstrasse abbiegen. In schwüler Hitze erreichen wir Fieberbrunn. Fieberbrunn, welch passender Name heute! In der Eisdiele zu Fieberbrunn essen wir einen Coupe Copacabana.
Den Rhein haben wir überquert, die Donau verschmäht, dem Inn sind wir nur kurze Zeit gefolgt, doch die Enns zeigt uns nun über 150 Kilometer den Weg durch die Steiermark. Vor ein paar Tagen träumten wir vom Land hinter den sieben Bergen, jetzt sind wir dort wohl angekommen. Wir fahren durch zwischen Dachstein, Totem Gebirge und Tauern, gelangen dann am Fuss der Eisenerzeralpen in eine Schlucht namens Gesäuse. Da kann es einem im Gemüt ganz seltsam werden.
«Die Bettenburgen und die meisten Läden sind zu, die Gaudistationen zugenagelt.»
Die Enns tost wild, die Felswände links und rechts werden immer bedrohlicher, ein Dampf schwebt in der Luft und kühlt die Haut, der tiefblaue Himmel über uns ist bloss noch ein schmaler Streifen. Wo sind wir eigentlich? Das Naturspektakel ist auf ein Minimum beschränkt und umso stärker. Es tost der Fluss, es drängen die Felsen, der Himmel entschwindet, jede Übersicht, jede Orientierung ist dahin, es scheint nur noch die Senkrechte zu geben. Die Strasse führt über Brücken bald an der linken, bald an der rechten Seite durch die Schlucht, steigt über Kuppen, um besonders enge Stellen zu vermeiden. D
ies ist ein grossartiges Fahrerlebnis, es ist von mächtiger Schönheit. Doch dann spürt man, dass man hier nicht anhalten und absteigen möchte. Hier ist das Land hinter den sieben Bergen, hier wohnen die Elfen, der Wurzelsepp, die sieben Zwerge und andere unbekannte Schluchtengeister. Unser Kompass ist durcheinander, doch wir wollen nur noch eins: so fahren, wie die Enns fliesst, und wieder hinaus gelangen in die offenen Weiten der Welt.
Die Fahrt mit dem Wasser der Enns hat im Dorf Mooslandl in der Steiermark ein Ende, etwas weiter gelangen wir an die Salza, einen Zufluss der Enns, und jetzt fahren wir gegen das Wasser. Das Tal der Salza ist dicht bewaldet, die Strasse scheint in eine ferne Unendlichkeit zu führen. Alle zehn Minuten sehen wir ein Auto in die eine oder andere Richtung fahren, spärlich sind die Kühe auf den Weiden, die Bauernhäuser neben der Strasse. Ausser der Strasse sind kaum Spuren von Menschenfleiss zu sehen.
Die Salza rauscht und plätschert lieblich, die Symphonie Tausender Vogelstimmen umhüllt uns. Immer wieder hören wir einen Kuckuck so laut rufen, dass er wohl in der Nähe sein muss. Wir denken dann, es rufe immer derselbe Kuckuck. Der Kuckuck folgt uns also, so, wie wir von Kurve zu Kurve fahren, fliegt er weiter von Ast zu Ast, um uns wieder und wieder zuzurufen. Er hat ja Zeit und heute sonst nicht viel zu tun, und die drei Radler da unten auf der Strasse sind für ihn eine willkommene Abwechslung.

An der Enns schien es nur noch die Senkrechte zu geben, an der Salza gerät einem die Waagrechte durcheinander: Man weiss zwar, dass man gegen das Fliessen des Wassers fährt, und man sieht es. Das Wasser bewegt sich abwärts, also fährt man aufwärts, doch im Tal der Salza hat man immer wieder das glückliche, schwerelose Gefühl, man fahre talauswärts, dabei fährt man taleinwärts, fast vierzig Kilometer und über 300 Meter Höhenunterschied hinauf, übers weltferne Dorf Wildalpen, den Weichselboden bergwärts zum Halspass. Spätestens in den letzten Zwanzig-Prozent-Kehren unter dem Pass begreift man, dass es aufwärtsgeht.
«Immer wieder hören wir einen Kuckuck so laut rufen, dass er wohl in der Nähe sein muss. Wir denken dann, es rufe immer derselbe Kuckuck.»
Die Poesie der Namen hört nicht auf, und wie ein Gedicht muss man sie auswendig lernen, sonst geraten sie einem durcheinander. Die letzte Strophe des Gedichts lautet Halspass, Gscheidpass, Ochsattel, Rohrer Sattel und Auf-dem-Hals-Pass. Wenn man sie geschafft hat, weiss man nicht mehr, ob man noch gescheit ist. Das ist auch nicht mehr wichtig, denn schon tost uns die grosse Stadt Wien an der Donau um die Ohren. Wir finden unser Hotel im Stadtteil Wien Favoriten, und dort beginnen unsere Augen zu weinen. An diesem Nachmittag haben hier Kurden für ihre Anliegen demonstriert, ein Schlägertrupp von Nationaltürken ist auf die Kurden losgegangen, und die Polizei hat Tränengas eingesetzt.
Weil die Schweiz mitten in Europa liegt, kommt man bald auf die Idee, von der Bundesstadt Bern aus die Hauptstädte der Nachbarländer anzusteuern. Im Juni 2020 zieht es Velojournal Richtung Orient. Hinter dem Rhein reihen sich 83 859 Quadratkilometer Österreich wie eine lange Wurst dahin, von West nach Ost, zwischen Vorarlberg und Wien. Die einfache Rollerroute am Inn wird nur kurze Zeit genutzt, die träge Donaufahrt ganz ausgelassen, reizvoller ist die hügelige Variante weiter südlich. Am Ende dieser würzigen bis scharfen Radlerwurst hat man begriffen, dass die Alpen bis Wien reichen.
24 Pässe und Übergänge
1100 Kilometer
16'000 Höhenmeter
Im Railjet-Zug Wien–Zürich fährt das Velo nach Reservation mit.
Gute Dienste leisten zwei Handbücher von Rudolf Geser: «Mit dem Rennrad durch die Alpen» und «100 Alpenpässe mit dem Rennrad». Beide sind erschienen im Bruckmann-Verlag in München.
Karten: Strassenkarte Schweiz 1:300 000 von Kümmerly und Frey; Generalkarten von Marco Polo 1:200 000, und zwar Blatt 3: Vorarlberg, Tirol, Südtirol, Oberbayern, sowie Blatt 2: Salzburg, Steiermark, Kärnten.


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