Lutz Redecker
Reisen,
09.07.2024
Apulien ist eine Schatztruhe traumhafter Landschaften und Architektur, die in der Nebensaison schnell vergessen lässt, dass die Region in den Sommermonaten im wahrsten Sinn heiss begehrt ist.
Lutz Redecker
Reisen,
09.07.2024
Blick auf das Centro Storico im Städtchen Monopoli. (Foto: Lutz Redecker)
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Plötzlich ruckelt es, und ein schriller Ton durchdringt mich, gerade gelingt es noch, meinen Rucksack festzuhalten. Der Ton klingt nach Eisen. Während ich mich durch die sanfte Tavoliere-Tiefebene träume, macht der Bummelzug im Städtchen San Severo eine abrupte Bremsung. Vor langer Zeit nahm mich hier ein antiquierter Wagon der privaten Zuglinie Ferrovie del Gargano auf. Wie sagte damals ein kurioser Schaffner – ich würde sicherlich in diese grandiose Terra della Puglia zurückkehren. Ecco: Dieses Mal werde ich Apulien mit seinen vielen Überraschungen vom Sattel aus erleben und nach der Alta Murgia über Matera in der Basilicata bis in die Provinz von Taranto gelangen.
Doch zunächst starte ich im nahen Manfredonia und gelange über Andria zu einem der höchsten Aussichtspunkte der Alta Murgia. In dessen massivem Staufer-Kastell behütet der freundliche Pförtner mein Velo. Staunend blicke ich im Inneren auf die Bildgeschichten aus dem 7. Jahrhundert vor Christus – Stelen mit keilförmigen Köpfen, für die sich die Archäologie erst im letzten Jahrhundert zu interessieren begann. Mein Interesse gilt dem «Mann aus Apulien», wie der Journalist Horst Stern den legendären Stauferkönig Friedrich II. (1194–1250) in spannenden Aufzeichnungen aus der Ich-Perspektive beschreibt. Seine Spuren leben in Apulien auch heute noch auf Schritt und Tritt weiter. Seine Gedanken vereinen geschickt Orient und Okzident.
Der Blick von der Terrasse meines B&B übertrifft meine Erwartungen. Über eine belebte Piazza schaue ich weit über den Golf von Manfredonia. Doch dunkle Wolkenfetzen ziehen am frühen Morgen über den Horizont, und eine fette Regenwolke erwischt mich nur wenige Kilometer ausserhalb der Stadt. Im Kloster von San Leonardo di Siponto finde ich Schutz und ziehe etwas Trockenes aus dem Rucksack hervor. Unter dem edlen Löwenportal der Kirche aus dem 13. Jahrhundert lese ich über die ehemalige römische Siedlung Siponto, einst mächtiger Hafen des Römischen Reichs.
«Windschiefe Bäume dehnen sich im Wind, ein Kilometerstein folgt dem anderen, der Morgen zieht langsam vorbei.»
Weiter gehts! Eukalyptusbäume und Schilf säumen den noch feuchten Asphalt. Die ausgedehnte Küste nach Süden ist von Salzfeldern und Kanälen durchzogen – diverse Reiher und sogar Flamingos hocken in einer flachen Lagune fast bewegungslos. Während ich breite Pfützen umfahre, erscheint Reklame für Salzkuren in Magherita di Savoia. Mich zieht es aber in die Hügel. Meine App zeigt ein Bündel von Strassen, die mich durch Andria nach Castel del Monte leiten. Schliesslich liegt kurz vor Sonnenuntergang die steinerne Krone Apuliens auf 540 Metern Höhe vor mir! Der Lohn dafür ist ein grandioses 360-Grad-Panorama. Kein Mensch weit und breit, nur einige Vögel stimmen den Abend ein.
Das Oktagon mit seinen achteckigen Türmen aus dem Jahr 1240 ist bis heute nicht eindeutig enträtselt. War es ein Observatorium – oder eine aus Stein modellierte Krone? Die meterhohen trapezförmigen Räume im Inneren zierte einst Marmor. Gigantische Kamine, Wasserleitungen und Lüftungen schufen sicherlich ein gutes Wohnklima. Was für ein Castello!
In der nahen Masseria Pino Grande finde ich noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit Unterschlupf, zwar nur in einem Dachzimmer, dafür aber bekomme ich im Handumdrehen eine köstliche Portion Orecchiette mit Broccolispitzen und Pecorino Sardo. Vom engagierten Biolandwirt Giorgio erfahre ich, dass die befestigten Gutshöfe einst auch gut Angriffen der Banditi trotzen konnten.
Bei frischem Gegenwind über die fast kahle Hochebene nach Südosten zu fahren, lässt verstehen, dass in dieser Gegend Broterwerb nicht gerade einfach war. Dementsprechend dünn besiedelt ist die Region. Windschiefe Bäume dehnen sich im Wind, ein Kilometerstein folgt dem anderen, der Morgen zieht langsam vorbei. In den Zeiten Friedrichs II. war die Alta Murgia dicht bewaldet. Davon geben die letzten Kilometer vor Gravina eine Idee. Ein Wiedehopf fliegt über mir und verschwindet in den Pinien des Kiefernwaldes Selva Reale.
Während ich mich auf der Piazza Centrale von Gravina an einem Cappuccino wärme, lese ich, dass es die mittelalterliche Stadt bereits seit der Bronzezeit gibt. Die canyonartigen Schluchten bewohnten bereits Byzantiner und sizilianische Mönche. Doch richtig spannend ist der Blick gleich hinter der Piazza Cattedrale: In der Tiefe liegt eine Höhlensiedlung, die sich bis hin zum Ponte Acquedotto mit einer Grottenkirche erstreckt. Mit knurrendem Magen lande ich auf uraltem Pflaster eine Kurve weiter in einer Gourmet-Osteria, wie mir erst beim köstlichen Artischockenrisotto langsam bewusst wird. Denn in Gedanken bin ich bereits im legendären Matera, einer auf Höhlen gebauten Stadt knapp dreissig Velokilometer östlich. Berühmt geworden durch Carlo Levis Roman «Christus kam nur bis Eboli» und einen späteren Pasolini-Film. Noch in den 1950er-Jahren lebten bitterarme Bewohner mit markanten Gesichtern in den Kalksteinhöhlen «Sassi». Ziegen, Esel und Katzen inklusive.
«Die Mittagssonne lässt den weiss glänzenden Kalkstein des Hafenviertels schimmern.»
Eindrucksvoll beschreibt ein langes Wandgemälde im Palazzo Lanfranchi dieses Leben der «fratellanza» – ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl, beendet durch Zwangsumsiedlungen in den 60er-Jahren. Inzwischen hat die Siedlung mit Kanalisation und Strom den Status Weltkulturerbe erlangt – eine Domäne talentierter Architekten, wie auch mein B&B beweist. Ein glücklicher Zufall führt mich abends in eine Unterkunft mit Blick auf das Häusermeer der Sassi.
Auf der Etappe nach Massafra, entlang unendlich weiter Getreidefelder, kreuze ich die breite SS7, um dann bei Castellaneta wieder jene Landschaften beim Parco Naturale delle Gravine auf hügeligen Strassen zu durchfahren, die an das alte Apulien erinnern. Eiszeitliche Erosion schuf dort enorme Schluchten, Regen hat den karstigen Grund weiter ausgehöhlt. Die Strasse flankieren kleine Ländereien mit gekalkten Häusern, knorrigen Mandelbäumen und uralten Weinranken über morschen Pergolas.
Leider hat die Stahl produzierende Stadt Taranto in ihren Hochzeiten alle Arbeitskräfte des Landes hier absorbiert, und viele Bauern wanderten ab. Von diesem Sog konnte sich Massafra, wie mir Giovanni vom Uffico turistico erklärt, erst langsam wieder lösen. Über schmale Pflastersteingassen, die gerade noch einen Fiat 500 an mir vorbeiächzen lassen, erreiche ich die lebhafte Piazza Garibaldi. Die Höhlen der Gegend waren im Paläolithikum bewohnt, byzantinische Mönche lebten dort – Langobarden, Araber und Türken zogen vorbei. In einer der vielen Höhlenkirchen, erschlossen über steile Treppenstufen an einer Felswand, staune ich über Fresken in Bildernischen. Zurück an der frischen Luft geniesse ich einige Gassen weiter den Blick vom normannischen Castello bis zum Ionischen Meer. Auf der stillen Terrasse meines B&B über einer fast arabisch wirkenden Altstadt klingt der Tag aus.
Einen Katzensprung entfernt liegt tags darauf das mit alten Palazzi bestückte, mal barock verträumt, mal elegant wirkende Martina Franca. Ganze Haine mit duftenden Zitronenbäumen, Wiesen mit Margeriten und der weite Kiefernwald Pianelle trennen mich von der Stadt. Steinmauern säumen die langsam ansteigende Salita di Polano, wo ich einigen durchgestylten italienischen Bikern mit blitzenden Rennvelos folge, Grüsse und Routenideen austausche und schliesslich vor einem urbanen Kunstwerk ankomme. Das Centro Storico Martina Francas gehört zum Allerfeinsten, was Apulien zu bieten hat, kein Zweifel. Von der Porta di Santo Stefano schiebe ich das Velo über den leuchtenden Kalkstein in Richtung der perlenförmigen Piazza Immacolata. In einem kleinen Fotoatelier stolpere ich über eine reiche Fotoauswahl der glorreichen 50er- bis 70er-Jahre: jenen Tempi passati der Stadt. Davon weiss auch der muntere 95-jährige Franco Miulli in seinem Gemüsegeschäft an der Via Donizetti zu berichten.
Vom Gestern der Geschichte erzählt besonders eine in Apulien legendäre Bauform, die organisch runden Trulli mit steinernen Zipfelmützen. In dieser windumtosten Nacht sind sie mein sicheres Zuhause an der Strasse nach Alberobello. Wie steinerne Inseln inmitten fruchtbarer, rotbrauner Erdkrume liegen mancher dieser Trulli.
Kaum zu glauben, dass es einst Richtung Monopoli einige Tausend dieser mörtellosen Steinhütten gab. Heute sind sie fantasievoll renoviert und bilden zwischen endlosen Wein- und Olivenhainen ein landschaftliches i-Tüpfelchen oder gar, im nahen Alberobello, eine fast unwirkliche Märchenstadt.
Nach einem Regenschauer mit Hagel geht es morgens auf feuchtkaltem Asphalt durch das fruchtbare Itria-Tal, umgeben von blühenden Fruchtbäumen. Die Strasse mündet in den Steineichenwald Selva di Fasano und gibt plötzlich an einer Bergkante den Blick auf Monopoli und das Adriatische Meer frei. Über mehrere Kilometer flitze ich bergab in diese Richtung, vorbei an hundertjährigen Olivenbäumen und saftigen Wiesen.
Dem aufgeschobenen Wunsch nach Sonne und Meer bei andauernd launischem Aprilwetter kommt ein blauer Himmel auf der Küstenstrasse nach Monopoli voll und ganz entgegen. Vom Velosattel aus schweift der Blick über Steinmauern auf kleine Strände und zerklüftete Buchten. Während sich die Wolken im Inland türmen, mäandert die Küstenstrasse über zehn Kilometer von der römischen Ausgrabungsstätte Egnazia nach Monopoli. Ein Guide weist stolz auf die drei opulenten Grazien aus dem 5. Jahrhundert hin, die in Bodenmosaiken eingelegt sind.
Elegant wirkt auch Monopoli mit seiner hell getünchten Altstadt. Die Mittagssonne lässt den weiss glänzenden Kalkstein des Hafenviertels schimmern, und die Reifen des Velos rutschen beim Bremsen. Trattorien laden zum Verweilen ein, der köstliche Duft aus den Küchen ist unwiderstehlich. Mit einem guten Gefühl im Bauch studiere ich meine Karte, denn das Strassenmeer von Bari ist besser weiträumig zu umfahren. Und so lande ich 15 Velokilometer weiter im Landesinneren im schmucken Conversano mit romanischer Kathedrale und verwinkeltem Castello samt lauschiger Piazza zum Ausruhen. Meine Waden erhalten eine Massage, ich eine Dusche, das Velo eine Runde Kettenfett.
Wie sehr Apulien auf Olivenanbau setzt, zeigt die Etappe nach Trani. Alte Baumriesen fügen sich harmonisch in die Landschaft. Die Strassen, offensichtlich jünger als die Olivenhaine, folgen immer wieder dem vorgegebenen Verlauf der Felder. Hafenatmosphäre pur erwartet mich in Trani, und in dem kleinen und feinen B&B schaue ich von der Dachterrasse auf die leuchtend weisse Altstadt; das Velo parkt unter meinem verwinkelten Zimmer mit Steiltreppe. Nachbar Beppe gibt mir in seiner bizarren Cantina eine Idee, wie köstlich hausgemachtes Olivenöl schmecken kann, die entscheidende Note sei ein gewisser «pizzico» bzw. Biss. Nach einer duftenden Focaccia gehts zur Kathedrale und dem stauferischen Castello mit seinen gigantischen Sälen. Sein Äusseres, knapp 800 Jahre alt, könnte auch als postmoderner Entwurf durchgehen.
Weiter nördlich an der Küstenstrasse gelange ich hinter Barletta auf eine kilometerlange Palmenallee mit Blick auf türkisfarbenes Meer und komplett leeren Stränden. Gelbe Mageritenhecken, gesprenkelt mit rotem Mohn, lässt der Meerwind rhythmisch tanzen. Bei einem kräftigen Nordwestwind rückt mit den Konturen des Vorgebirges Gargano die letzte Nacht dieser Tour in Mattinata langsam näher.
Reisezeit: Frühling und Herbst sind besonders reizvoll.
Anreise: Foggia ist von der Schweiz per Zug in knapp 11 Stunden erreichbar.
Unterwegs: Manfredonia–Castel del Monte (88 km); Castel del Monte–Gravina–Matera (76 km); Matera–Massafra (58 km); Massafra–Martina Franca (33 km); Martina Franca–Alberobello–Egnazia–Monopoli–Conversano (69 km); Conversano-Corato–Trani (88 km); Trani–Barletta–Mattinata (92 km)
Literatur: Michael Machatschek: Apulien. michael-mueller-Verlag.de
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