Wien: Velofahren in der lebenswertesten Stadt der Welt

Wien gilt als die lebenswerteste Stadt der Welt. Beim Veloverkehr gibt es allerdings noch viel Luft nach oben, wie die Reportage von Velojournal zeigt.

Pete Mijnssen ist Chefredaktor des Velojournals.

Pete Mijnssen, Chefredaktor (pete.mijnssen@velojournal.ch)
Schwerpunkt, 16.08.2022

Wien ist eine schöne Stadt. Soeben kürte sie der «Economist» zum fünften Mal zur lebenswertesten Stadt der Welt (vor Kopenhagen und Zürich). Mit ein Grund ist ihr historisches Erbe: Die innerstädtischen Prachtbauten atmen noch immer die Grandezza des untergegangenen Kaiserreichs. Und im Gegensatz zu vielen deutschen Städten wurde Wien von den Weltkriegen weitgehend verschont.

Die 1,9-Millionen-Metropole ist auch ein Touristenmagnet: Über 17 Millionen Übernachtungen pro Jahr waren es vor der Pandemie. Dank gut ausgebautem öffentlichen Verkehr – einem effizienten U- und S-Bahn-Netz – sind auch die Aussenbezirke der Stadt erschlossen. Der Ausbau des «Öffis» wird vorangetrieben, schliesslich wächst die Stadt rasant.

Radwegnetz der Stadt Wien ist ein Flickwerk

Nur das Velowegnetz ist und bleibt ein Flickwerk: Eine Fahrt durch die Innenstadt präsentiert sich vorab als Geschlängel auf Velo-/Gehwegen zwischen brausendem Autoverkehr. Auf den mehrspurig geführten Hauptstrassen am Ring hält sich trotz Tempo 50 kaum jemand an die Limiten, desgleichen in den vielerorts eingeführten Tempo-30-Zonen. Auch hier wird kaum kontrolliert.

Die Strassen sind zu breit, und weder bauliche Massnahmen bei den Tempo-30-Zonen noch grüne Wellen für den Langsamverkehr ermöglichen einen ruhigeren Verkehrsfluss. Ausser in ein paar verkehrsfreien Zonen in Einkaufsgebieten ist das Auto omnipräsent.

Vorstoss führt zum Bruch von Grünen und SPÖ

Dabei sah es bis vor zwei Jahren noch ganz anders aus. Die grüne Vizebürgermeisterin und Spitzenkandidatin der Grünen, Birgit Hebein, wollte damals die Innenstadt zur autofreien Zone umgestalten. Und stach in ein Wespennest: Die rechtspopulistischen Freiheitlichen (FPÖ), die sich als Schutzmacht der Autofahrerinnen und Autofahrer betrachten, sahen darin einen «Überfall auf die Bürger».

Aber auch die angrenzenden Bezirke (Wien verfügt über 23) beklagten sich über fehlenden Einbezug durch die forsche Politikerin. Der sozialdemokratische Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), offenbar nicht in die Pläne seiner Stellvertreterin eingeweiht, versenkte das Projekt schliesslich vorzeitig mittels eines Rechtsgutachtens.

«Der ‹kleine Sozialismus›, den die SPÖ in Wien nach dem Krieg umsetzte, bestand aus einer Gemeindewohnung, einem Job beim Staat und einem Opel Kadett.»

Rüdiger Maresch, Verkehrssprecher Grüne Österreich

Das war dann auch der  Schlusspunkt der seit 2010 regierenden rot-grünen Koalition, obwohl sie bei den Wahlen 2020 dank Zuwachs eine satte Mehrheit hätte bilden können. Seither regieren die Sozialdemokraten mit den liberalen Neos. Die Chancen der Pandemie verpufften, kein einziger Pop-up-Radweg ist geblieben.

Autoland Österreich

In Verkehrsfragen ist mit der SPÖ also nicht zu spassen. Während die Grünen ihre Klientel in den zentrumsnahen, tendenziell linken und ökologisch bewussteren Bezirken finden, vereint die in Wien seit Jahrzehnten dominante SPÖ heute noch immer über 40 Prozent der Stimmen auf sich. Sie ist auch in den weitläufigen sogenannten Flächenbezirken stark. Eine Erreichbarkeit per Velo oder zu Fuss ist hier oft nicht gegeben oder nicht vorgesehen.

Hinzu komme ein kulturell-politischer Aspekt, erklärt Rüdiger Maresch, der Verkehrssprecher der Grünen, gegenüber der NZZ: «Österreich ist ein Autoland.» Dies gelte auch für die sozialdemokratische Klientel: «Der ‹kleine Sozialismus›, den die SPÖ in Wien nach dem Krieg umsetzte, bestand aus einer Gemeindewohnung, einem Job beim Staat und einem Opel Kadett», polemisiert der 68-Jährige treffend. Freie Fahrt in die Innenstadt und günstige Parkplätze würden fast als Grundrecht gesehen. «In Österreich findet der Klassenkampf im Verkehr statt.»

Beziehungsstatus Velo und Politik: kompliziert

Seit eineinhalb Jahren agiert die rote Ulli Sima nun als Verkehrsministerin. Im Gespräch mit dem «Drahtesel» (dem österreichischen Schwesterblatt von Velojournal) zeigt sie zwar Verständnis für die Nöte der Radfahrenden und verspricht, dieses Jahr 20 Millionen in Querverbindungen zu investieren.

Unterstützt wird sie dabei von der stadteigenen Mobilitätsagentur. Dort ist man laut eigenen Angaben mit Hochdruck daran, «Lücken zu schliessen». Dennoch existiert offenbar kein strategischer Plan zur Veloförderung mit klaren Zielen.

Zwar werden immer wieder neue Routen gebaut und Zählstellen eingerichtet, die eine beachtliche Veloverkehrsfrequenz aufzeigen. Dennoch machen das Fehlen von durchgehenden Routen und einer übersichtlichen Linienführung es Ungeübten schwer, ihren Weg durch die Millionenstadt zu finden.

Lücken für den Veloverkehr werden nur zaghaft beseitigt

Zu vieles ist wenig verständlich beschriftet, wie auch Johannes Pepelnik bestätigt. Er ist ein erfahrener Jurist bei der Radlobby und ein aktiver Stadtvelofahrer. Geht es nun vorwärts mit dem «Lückenschliessen», wie versprochen?

Pepelnik verneint: Auch bei der soeben neu umgebauten Salztorbrücke seien die Verkehrsflächen so belassen worden wie seit den 1970er-Jahren: viel Platz für Autos, ein schmaler Streifen für Velos, keine Velo-Abbiegespur, keine beidseitige Befahrbarkeit, keine vorgezogenen Haltebalken.

Hier kreuzt zudem der Donau-Radweg; Velofahrende hätten theoretisch Vortritt. Nur wissen das abbiegende Autofahrende nicht, es gibt keinerlei Zeichen, dass hier Velos queren könnten.

Pepelnik weiss aus eigener Erfahrung und als Geschädigten-Vertreter, dass dies «ein sehr gefährlicher Hotspot» ist. Neue Projekte würden noch immer hauptsächlich für den Autoverkehr gebaut, und bei Brückensanierungen würden Alibiradwege aufgepinselt. Das Weiterverfolgen der autofreien Innenstadt hingegen wurde auf Eis gelegt.

Rote Welle statt Velovorfahrt

Wien ist ein Beispiel dafür, wie das Velo zwar als Feigenblatt der Verkehrspolitik herhalten darf, aber nicht konsequent behandelt wird. So entstehen die beschriebenen Hindernisse, die das Velofahren erschweren und verlangsamen.

Auch ist etwa an der zentralen Verbindungsroute am Donaukanal ein rasches Vorwärtskommen meist schwierig. Denn dort muss man sich den oft knappen Platz mit Anlieferung, Zu-Fuss-Gehenden und Feiernden teilen, was gerade im Sommer dem Verkehrsklima unter diesen Gruppen nicht gerade förderlich ist.

Es entsteht der Eindruck, dass die Stadt Wien möglichst viele Wähler in Autos durch die Stadt schleusen will und muss und dass pragmatische Lösungen mit einem Wust von Bestimmungen verhindert werden, wovon Pepelnik ein Lied singen kann. So sah die neue Strassenverkehrsordnung eine generelle Öffnung von Einbahnstrassen vor, welche die Stadt allerdings verhinderte.

Wiener Polizei behandelt Autofahrer und Radfahrerinnen unterschiedlich

Beim Büssen von Velofahrerinnen und Velofahrern scheinen die örtlichen Organe hingegen sehr effizient zu sein. Dafür ist die Wiener Polizei schon fast berüchtigt. Das beginnt mit Verstössen gegen den komplizierten Bussenkatalog, die teuer werden können, und es endet mit enormen Strafen wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand.

Grundsätzlich sind Bussen rechtskonform. Übereinstimmende Quellen berichten aber, dass beim Auto- und Veloverkehr mit unterschiedlichen Ellen gemessen wird: Was bei Ersterem als Kavaliersdelikt gilt, kann bei Letzterem schnell Tausende von Euro kosten.

«Im Gegensatz etwa zu den Niederlanden, wo Velofahrende vom Gesetz her gut geschützt sind, ist hier ein Radlerleben offenbar massiv weniger wert.»

Pepelnik berichtet von radfahrenden Studenten, die wegen einer hohen Busse ins Gefängnis wanderten, weil sie den Betrag nicht zahlen konnten. Dem Schreibenden zeigt er den Auszug aus einem Verfahren gegen eine Frau, die aus Unachtsamkeit zweimal hintereinander in eine Alkoholkontrolle geriet und nun mehrere tausend Euro zahlen soll.

Pepelnik spricht von systematischer Diskriminierung gegenüber Velofahrenden. Er kann Dutzende von Fällen bezeugen, bei denen ein Unfall mit Schlüsselbeinbruch durch eine unaufmerksam geöffnete Autotüre (Dooring) materiell gleich behandelt wurde wie ein abgebrochener Rückspiegel am Auto.

Im Gegensatz etwa zu den Niederlanden, wo Velofahrende vom Gesetz her gut geschützt sind, ist hier ein Radlerleben offenbar massiv weniger wert.

Stückwerk-Verbesserungen werden teuer

Wie aber könnte Wien zu einem besseren Radwegnetz kommen? Trotz aller Hindernisse ist das Zweirad in der Innenstadt zwar populär, aber der Modalsplit liegt trotz vieler offizieller Massnahmen erst bei rund 7 Prozent aller Fahrten.

Soeben hat ein Team um den österreichischen Komplexitätsforscher Michael Szell untersucht, wie Städte optimal Radwegnetze planen sollen. Die Forschenden zeigten auf, dass es nicht auf die Länge der Radwege ankommt, sondern darauf, «wie» das Netzwerk ausgebaut wird. Gerade in Wien sei der Ausbau von Radwegnetzen aber durch jahrzehntelange, stückweise Verbesserungen erfolgt, so Szell.

Das sei «die schlechteste Wachstumsstrategie», wie die Wissenschaftler mit Simulationen aufzeigten. Eine solche mehr oder weniger auf Zufall basierende Strategie benötige mindestens dreimal so viele Investitionen wie eine die ganze Stadt umfassende grundlegende Strategie.

 

«Man fährt hier nicht wegen, sondern trotz der Infrastruktur Rad.»

Johannes Pepelnik, Jurist 

Viel Autoverkehr in der lebenswertesten Stadt der Welt

Erstaunlich an dem Befund ist, dass Wien 2013 Austragungsort des Velocity-Kongresses war und dort durchaus punkten konnte. Inzwischen beklagen aber viele, dass der Autoverkehr massiv zugenommen habe und die Stadt nichts dagegen unternehme.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Pepelnik etwa beurteilt das Wiener Radnetz «mehr als Flickenteppich denn als Netz». Leider sei Wien eine Stadt der vertanen Chancen. Seine Schlussfolgerung: «Man fährt hier nicht wegen, sondern trotz der Infrastruktur Rad.»

Wenn nicht mehr in Veloinfrastruktur investiert werde, würden nicht mehr Menschen umsteigen. Ein Spagat also zwischen der heiligen Kuh der SPÖ, dem Auto – und einer klimaneutralen, velo- und fussgängerfreundlichen Stadt mit grünen Veloampeln? Die Zukunft wird es weisen.