«11'000 Autoparkplätze fallen weg»

Im September fand in Zürich die Rad-WM statt. Die Stadt hatte im Vorfeld ein bleibendes Vermächtnis bei der Velo­förderung versprochen. Was ist geblieben? Das wollten wir von Tiefbauvorsteherin Simone Brander wissen.

Pete Mijnssen ist Chefredaktor des Velojournals.

Pete Mijnssen, Chefredaktor (pete.mijnssen@velojournal.ch)
Schwerpunkt, 12.11.2024

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Velojournal: Frau Brander, Zürich versprach auf die Rad-WM, unter anderem «ein Velo-Fest für alle – mit einem über den Anlass hinaus bleibenden Vermächtnis, beispielsweise bei der Veloförderung». Was ist davon auf Zürichs Strassen übrig geblieben? 

Simone Brander: Was in Bezug auf die Sportförderung bleibt, müssen Sie beim lokalen Organisationskomitee abholen. Baulich waren es alles temporäre Massnahmen. Es wurde ja auch kein Stadion gebaut wie für Olympische Spiele, sondern die bestehende Infrastruktur genutzt. 

Die Stadt Paris hat die Olympischen Sommerspiele aber für eine Velooffensive genutzt. Es wurden Hunderte Kilometer neue Velorouten gebaut. Warum hat die Stadt Zürich nichts in dieser Richtung unternommen? 

Brander: Wir sind mit voller Kraft dabei, Velovorzugsrouten in Zürich umzusetzen. Das hat aber nichts mit der Rad-WM zu tun. Die WM war ein Grossanlass, der nach den Strukturen eines Grossanlasses ablief, wie beispielsweise der Streetparade. 

Inzwischen hat die Bevölkerung den Gegenvorschlägen der Stadtklima-Initiativen zugestimmt. Existiert schon ein Plan, wie diese umgesetzt werden? 

Brander: In die politischen Diskussionen war ich nicht involviert, weil ich Mitglied der Initiativkomitees war. Aber ja, es gibt einen Plan, der festlegt, wie die vorgegebenen Ziele innerhalb der nächsten zehn Jahre umgesetzt werden sollen. Bis dann müssen die beiden Gegenvorschläge umgesetzt sein. Dazu gehören auch mindestens 50 Kilometer autofreie Velovorzugsrouten bis 2031 – da sind wir dran. Für diese Umsetzung gibts einen klaren Plan. Zudem sind die Quartierblöcke geplant – vorerst werden wir vier Pilotquartierblöcke umsetzen. Für das Pilotprojekt wurden Gebiete in den Quartieren Aussersihl, Unterstrass, Riesbach und Seebach ausgewählt. Danach folgen weitere. Das ist ein rollender Prozess, der läuft. 

«Wir sind mit voller Kraft dabei, Velovorzugsrouten in Zürich umzusetzen. Das hat aber nichts mit der Rad-WM zu tun.»

Simone Brander, Vorsteherin Tiefbauamt der Stadt Zürich

Die Initiativen verlangen auch einen Abbau von Parkplätzen in der Stadt.

Brander: Ja. Wenn die Gegenvorschläge der Stadtklima­Initiativen wie vorgegeben umgesetzt werden, dann werden rund 11 000 Autoparkplätze abgebaut. Dies über den erwähnten Zeitraum von zehn Jahren. 

Zudem soll mit dem Masterplan Central-Hauptbahnhof die Verkehrsfläche rund um den grössten Schweizer Bahnhof radikal verändert werden. Der Widerstand von bürgerlicher Seite kündigt sich bereits an.

Brander: 2014 gab der Zürcher Gemeinderat dem Stadtrat den Auftrag für eine strategische Planung rund um den Hauptbahnhof. Alle Parteien waren dafür, auch die SVP! Seither ist die Stadt dabei, den Masterplan für das Gebiet rund um den HB zu erarbeiten. Dazu wurde ein aufwendiges Verfahren gewählt mit vier Teams. 2022 wurden die Zwischenergebnisse  veröffentlicht. In einem grossen Echoraum wurden die Inputs aller wichtigen Stakeholder berücksichtigt. Ich gehe davon aus, dass der Stadtrat 2025 den Masterplan beschliessen kann – im Moment wird er fertiggestellt. 

Es ist also nicht so, wie etwa von der NZZ kolportiert wird, dass Gruppen wie Anwohner oder das Gewerbe nicht miteinbezogen wurden und der Stadtrat über ihre Köpfe hinweg entschieden hat? 

Brander: Nein. Die Gewerbegruppierungen, etwa die City-Vereinigung, der Gewerbeverband oder Taxigruppierungen, sind selbstverständlich miteinbezogen worden. Und werden auch weiterhin miteinbezogen. 

Die Zürcher Innenstadt ist unter der Woche von Gewerbe- und Lieferdiensten verstellt, am Wochenende drehen die «Autoposer» ihre Runden. Die Rede ist von Zürich als Mini-Dubai oder Monaco. Ist die Politik dermassen hilflos? 

Brander: Der Umgang mit den Autoposern obliegt der Polizei und damit nicht meinem Departement. In der Innenstadt arbeitet das Tiefbauamt aber an zahlreichen Projekten, welche die Situation für Fussgänger und Velofahrerinnen verbessern werden. Dazu gehören die Löwenstrasse, die Uraniastrasse oder die ökologische Aufwertung der Pestalozziwiese. 

Das klingt nach Pflästerlipolitik. Die zögerliche Haltung des Stadtrats scheint die Konflikte eher zu befeuern als zu lösen. Die Stadt will es weiterhin allen recht machen. Wieso wird nicht einfach die Innenstadt vom Verkehr befreit?  Viele andere Städte machen es vor. 

Brander: Mit dem Masterplan Central-HB wird der Verkehr sicher ökologischer und konfliktfreier in der Innenstadt. Die Strategie «Stadtraum und Mobilität 2040», die der Stadtrat im Sommer verabschiedet hat, ist meiner Ansicht nach aber ein grosser Wurf. Wenn die Massnahmen so umgesetzt werden, dann steht die Stadt Zürich bezüglich Lebensqualität und Klimaschutz sehr gut da. 

Kürzlich waren Sie mit der Velokommission in Amsterdam. Was haben Sie davon mitgenommen?

Brander: Beeindruckt hat mich, wie die Stadt den Raum rund um den Bahnhof neu gestaltet hat, und das neue unterirdische Veloparking. Sonst waren wir in Aussenquartieren mit dem Velo unterwegs, in der Innenstadt ist der Verkehr oft chaotisch. Mini-Elektro-Autos und Jugendliche auf Fatbikes tragen dazu bei. Nicht gefallen hat mir die Beschilderung, als Auswärtige fand ich es schwierig, mich zu orientieren. Das Veloklima in Kopenhagen fand ich im Vergleich sehr viel angenehmer.

Das Zürcher Velowegnetz sollte seit dreissig Jahren fertiggestellt sein. Nun sprechen wir immer noch über Projekte, die teilweise Jahrzehnte dauern. Was läuft da schief?

Brander: Zu 1994 kann ich nichts sagen, das war weit vor meiner Zeit. Seit 2021 besteht aber der politische Auftrag, die Velovorzugsrouten bis in zehn Jahren umzusetzen, also bis 2031. Die Stadt Zürich hat sich zum Ziel gesetzt, 130 Kilometer Velovorzugsrouten zu schaffen. Daran arbeiten wir mit Hochdruck, damit wir ein durchgehendes Netz haben. Das sind Projekte, bei denen der Raum wirklich umverteilt wird – was auch zahlreiche Parkplätze fordert und auch auf Widerstand stösst. 

Viele der Velovorzugsrouten sind ja durch Einsprachen blockiert.

Brander: Es gibt Einsprachen, das ist richtig. Auch rechnen wir damit, dass mindestens eine der Einsprachen bis vor Bundesgericht weitergezogen werden wird. Nach den Urteilen zur Aufhebung von Parkplätzen zugunsten der Stadt und zu Tempo 30 hoffe ich, dass das Urteil dann möglichst eindeutig ausfällt, damit es als Grundsatzentscheid gelten kann. 

Kommen wir noch auf die bestehenden Vorzugsrouten zu sprechen. Warum hört jene auf der Baslerstrasse in Altstetten so abrupt auf? 

Brander: Die grüne Markierung hört dort auf, wo die Route Stand heute endet. Vereinfacht gesagt findet die Umsetzung in drei Schritten statt: zuerst wird als schnelle Massnahme die Markierung und Signalisation angebracht. Danach werden die Abbiegebeziehungen und die baulichen Massnahmen durchgeführt. Das dauert länger. Das sind die Schritte, die auf den ersten zwei Vorzugsrouten – Baslerstrasse/Bullingerstrasse und Mühlebachstrasse/Zollikerstrasse – bereits umgesetzt sind. Die dritte Stufe der Umsetzung dreht sich dann um die Verkehrsbeziehungen im Umfeld der Velovorzugsrouten. Dafür werden aber Massnahmen nötig, die nicht die Route an sich betreffen. 

«Wir messen die Entwicklung anhand des Mikrozensus Mobilität und Verkehr des Bundes. Die letzte Erhebung fand während Corona 2021 statt, diese Zahlen sind mit Vorbehalt zu betrachten.»

Simone Brander

Für Velofahrende ist das nicht wirklich nachvoll­ziehbar. 

Brander: Das Endziel ist eine durchgehende Veloinfra­struktur in der Stadt Zürich. Es gibt auch ein Monitoring: nach einem Jahr und nach drei Jahren. Es wird erhoben, ob das Verkehrsregime verstanden und eingehalten wird. Wenn nach drei Jahren festgestellt wird, dass alles funktioniert, ist das gut. 

Das klingt kompliziert. Die Frage ist doch vielmehr, ob der Veloanteil steigt. 

Brander: Wir messen die Entwicklung anhand des Mikrozensus Mobilität und Verkehr des Bundes. Die letzte Erhebung fand während Corona 2021 statt, diese Zahlen sind mit Vorbehalt zu betrachten. Wir warten darum auf den nächsten Mikrozensus. Erst dann wissen wir, wie sich der Veloanteil in der Stadt Zürich entwickelt. 

Die Stadt Zürich misst nicht selbst?

Brander: Punktuell schon. Zum Beispiel auf der Velovorzugsroute Baslerstrasse. Dort zeigen unsere eigenen Messungen, dass im ersten Jahr seit der Fertigstellung der Route der Veloverkehr um 40 Prozent zugenommen hat. 

Sie kamen vom Verkehrsclub VCS und Umverkehr in das Amt. Wie geht es Ihnen heute?

Brander: Ich fühle mich wohl und habe ein motiviertes Team hinter mir. Neben dem Ziel, das Veloroutennetz rasch umzusetzen, durfte ich ausser den beiden Velovorzugsrouten auch verschiedene Projekte einweihen, die vor meiner Zeit entstanden waren. Etwa die Langstrasse. Nächstes Jahr freue ich mich auf die Einweihung des Stadttunnels. Hinsichtlich der weiteren Zukunft auf die Franca-Magnani-Brücke zwischen den Kreisen 4 und 5 für den Fuss- und Veloverkehr! 

pmh. Die Hoffnungsträgerin Simone Brander ist nach zweieinhalb Jahren im Tiefbauamt auf dem harten Boden der Zürcher Verkehrsrealität gelandet. Sie verspricht viel, aber vieles wirkt erst angedacht. Wie etwa der Umbau rund um den Raum HB-Central. Das wird noch Jahre dauern und möglicherweise in einem typischen «Zürcher Kompromiss» enden: für alle etwas, aber kein mutiger Wurf.

Am ehesten wird sie als Parkplatz-Abbauerin und Grünflächen-Förderin in Erinnerung bleiben. Andere Probleme in der Innenstadt werden geflissentlich ignoriert, zur Freude etwa von Autoposern, die an den Wochenenden jeweils ihr Unwesen treiben. Entlarvend, dass solche Themen wie heisse Kartoffeln zwischen den Departementen hin und hergeschoben werden.

Typisch auch die Rad-WM: mit der grossen Kelle angerichtet, hochfliegende Versprechen – alles vorbei. Wo blieb die Zürcher Gallionsfigur, die sich für diesen Anlass einsetzte? Paris nutzte die Olympischen Spiele für eine Velo-­offensive. Zürich hat die Chance ungenutzt verstreichen lassen. So wie man hier auch viel Geld in Velomassnahmen investiert und doch immer auf den hinteren Rängen landet. Kein Wunder, die Stadt zählt ja den Veloverkehr nur alle paar Jahre. Fast von Hand, während andere etwa digitale Schwarm­intelligenz nutzen. Das ist Zürichs Velo­förderung: viel Input, wenig Output.