An einem schönen Aprilnachmittag fahre ich mit dem Velo durch die fast leergefegte Langstrasse in Zürich. Ich transportiere eine spezielle Fracht durch die Stadt. Ware, die in der Langstrasse gehandelt wird. Mein Auftraggeber ist aber keine dubiose Schattengestalt aus der Unterwelt. Losgeschickt hat mich das Arud Zentrum für Suchtmedizin. In meiner Tasche befindet sich Heroin.
Die Opiate sind bestimmt für Menschen mit einer langjährigen Suchterkrankung. Genau 28 Jahre ist es her, dass die Schweiz als erstes Land weltweit schwer abhängige Personen in ein staatlich geführtes Heroinprogramm aufgenommen hat – gegen viel politischen Widerstand und begleitet von internationaler Aufmerksamkeit. Eine absolute Pionierleistung. Das Programm hat sich bewährt: Es hat viel dazu beigetragen, die Übertragung von Infektionskrankheiten einzudämmen. Und es ermöglicht den Suchtkranken ein nahezu normales Leben.
Hauslieferung der besonderen Art
Normalerweise müssen die Klientinnen und Klienten im heroingestützten Programm täglich ins Zentrum für Suchtmedizin kommen. Während der Corona-Krise wird ihnen das Heroin aber nach Hause geliefert. Denn die meisten der Suchtkranken gehören zu den Risikopatienten und leiden an mehreren Vorerkrankungen. Die behandelnden Ärzte fürchten, dass sie – mit dem Coronavirus infiziert – wohl einen schweren Krankheitsverlauf haben würden. Zu ihrem eigenen Schutz sollen sie jetzt möglichst ihre Wohnung nicht verlassen.
Zwei Nachmittage pro Woche bin ich in der Stadt unterwegs und bringe den Patientinnen und Patienten per Velo eine Wochenration. Die Lieferung der Opiate ist mit dem Bundesamt für Gesundheit abgesprochen und bewilligt. Bei einer Adresse angekommen, desinfiziere ich die Hände, ziehe die Gesichtsmaske an und klingle. Die Klientinnen und Klienten erwarten mich meistens schon. Ich halte zwei Meter Abstand, um niemanden anzustecken.
«Kommen Sie den ganzen Weg mit dem Velo?», staunen einige, wenn ich in abgelegene Quartiere oder ausserhalb der Stadt liefere. Auch ins Universitätsspital werde ich dringend gerufen, wo eine Patientin nach einer Operation ihre Opiate braucht. Das streng regulierte Heroin ist offenbar auch in der Spitalapotheke nicht vorrätig.
«Die Schweiz hat in der Drogenpolitik Pioniergeist bewiesen und ist erfolgreich neue Wege gegangen. Diesen Mut lässt das Land in der Verkehrspolitik vermissen.»
Kaum gelockert, schon zurück
Kaum Autos, leere Trams, aber viele Velofahrende – so zeigt sich der Verkehr in Corona-Zeiten. Es ist ein spezielles Gefühl, durch die Lockdown-City zu fahren. Ich fühle mich privilegiert, kann mich draussen frei bewegen. Dies im Gegensatz zu den Menschen, die ich beliefere und die am Rande der Gesellschaft leben. Die Gefahr, die vom Virus ausgeht, ist unbekannt. Wir wissen noch immer wenig, deshalb ist Vorsicht angebracht.
Während des Lockdown gab es einen inzwischen vielfach bestätigten Veloboom. Andere europäische Städte wie Berlin, Paris oder Mailand sind vorangegangen und haben Pop-up-Velowege markiert, um mehr Platz für die vielen Velofahrenden zu schaffen.
Nicht so Zürich. Hier zieht nach dem ersten Lockerungsschritt Ende April der motorisierte Verkehr wieder deutlich an. Obwohl immer noch Bundesrat Bersets Aufforderung gilt: «Bleiben Sie zu Hause.» Und im Mai ist schon fast wieder alles wie immer: Die Autos stehen in einer Kolonne in der Langstrasse. Ich schlängle mich notgedrungen durch.
Die Kurierlieferung von Heroin in Krisenzeiten ist möglich, weil die Schweiz in der Drogenpolitik Pioniergeist bewiesen hat und erfolgreich neue Wege gegangen ist. Diesen Mut vermisse ich in der Verkehrspolitik: Die Blechlawine rollt mit den Lockerungsschritten des Lockdown wieder an. Und Zürich hat eine weitere Gelegenheit verpasst, das Velofahren in der Stadt sicherer zu machen.







