Anne Bernasconi, Leiterin Geschäftsstelle Allianz Schule+Velo
(anne.bernasconi@schule-velo.ch)
News,
15.08.2023
Im vergangenen Jahr reisten mehr als 2400 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in die Schweiz ein. Das ist die Geschichte von fünf jungen Afghanen, die seither auf dem Velo die Schweiz kennengelernt haben.
Anne Bernasconi, Leiterin Geschäftsstelle Allianz Schule+Velo
(anne.bernasconi@schule-velo.ch)
News,
15.08.2023
Zu Fuss und mit dem Velo lernten Najibullah, Naqibullah, Popal, Ezharullah und Hayatullah (v.l.n.r) die Schweiz kennen. Sie besuchten Gerhard Webers (rechts im Bild) Fremdsprachenintegrationsklasse in Aesch. (Foto: ZVG)
Vor gut einem Jahr gelangen fünf minderjährige Männer aus Afghanistan in die Schweiz. Sie haben die rund 6000 Kilometer hauptsächlich zu Fuss zurückgelegt und können bei ihrer Ankunft in der Schweiz weder lesen noch schreiben. Sie haben sich allen Gefahren ausgesetzt mit dem Ziel vor Augen, Geld zu verdienen in der Schweiz.
12 Monate später erreichen diese fünf jungen Männer zusammen ein bewundernswertes Ziel: Sie durchqueren die Schweiz aus eigener Kraft – mit den Velos und zu Fuss. Die Eindrücke der fünf Schüler aus der Fremdsprachenintegrationsklasse in Aesch BL sind durchwegs positiv und die Erlebnisse sind einmalig.
Gerhard Weber hat mit seiner Fremdsprachenintegrationsklasse, zu der die fünf jungen Afghanen im Alter von 17 Jahren gehören, schier Unglaubliches wahr gemacht. Er durchquert die Schweiz mit dem Velo und zu Fuss und setzt dabei auf eine unkonventionelle Lern- und Integrationsmethode: Praktische Erfahrungen draussen in der Natur ergänzen fachliche und überfachliche Lernmöglichkeiten.
Sie bauen nicht auf der Wortsprache auf, vielmehr helfen sie, Sprechen, Schreiben, Lesen und Verstehen körpersprachlich aufzubauen. Dadurch eignet sich die Velowanderung für schulunerfahrene, fremdsprachige Schüler besonders gut.
Die Tour wird gut geplant. Ganz nebenbei lernen die jungen Flüchtlinge die Schweiz kennen. (Foto: ZVG)
Jede Etappe bereitet Gerhard Weber zusammen mit seinen Schülern vor und nimmt dabei die Landkarte zu Hilfe. So wissen die Schüler über Kilometer, Höhenmeter, Zeitdauer und Pausen Bescheid. Und nebenbei lernen sie Kantone, Orte, Flüsse und Pässe kennen.
Der Endpunkt jeder Etappe ist sogleich der Ausgangspunkt für die nächste Etappe. Insgesamt führt die Tour über 11 Abschnitte ans Ziel.
Doch statt wie geplant beim Schulhaus in Aesch mit den Velos zu starten, müssen sie als erstes die vier Alpenetappen zurücklegen, um der Wintersperre zu entkommen. Der Grund sind Lieferprobleme der Schulvelos, die erst im Dezember 2022 statt zu Schuljahresbeginn im August eintreffen.
So wandert die Gruppe im September von Guttannen bis All’ Aqua im Tessin über die beiden Pässe Grimsel und Nufenen. Die Veloetappen fahren sie an einzelnen Tagen von Januar bis Mai 2023, jeweils mit dem Zug zum Ausgangspunkt und abends wieder nach Hause.
Gut ausgerüstet rollen sie unfallfrei durch kalte Winterlandschaften. Am Lungernsee treffen sie auf riesige Eiszapfen, was Naqibullah besonders fasziniert. Popal findet die gefrorenen Wasserfälle bei Innertkirchen wunderschön.
Auch während der kalten Monate war das Velo im Einsatz. (Foto: ZVG)
Um in die Schweiz zu gelangen, waren die jungen Afghanen auf sich allein gestellt. Eine Velotour in einer Gruppe ist jedoch ein Teamprojekt. Die jungen Männer warten aufeinander, bis alle aufschliessen und fahren möglichst hintereinander im selben Tempo.
Sie üben pünktlich zu sein, um den Zug nicht zu verpassen. Auf einer Bahnfahrt treffen sie auf weitere junge Afghani, die gerade in die Schweiz einreisen. Diese fürchten sich vor der Billettkontrolle und wollen wissen, wie sie weiter nach Frankreich, Deutschland oder England gelangen. Zu Fuss, auf dem Velosattel und vom Zug aus lernen die fünf Schüler die geographische Schweiz besser kennen. Sie lernen, was Teamarbeit bedeutet und machen die wertvolle Erfahrung, einander zu vertrauen. Das ist keine Selbstverständlichkeit für Flüchtlinge.
Freude über das Erreichen einer weiteren Passhöhe. (Foto: ZVG)
Ganz nebenbei kommen sie auf ihren Reisen mit der Schweizer Kultur in Berührung und lernen, Deutsch zu sprechen. Sie kommen mit anderen Velofahrenden und Wandernden ins Gespräch, die genau wie sie mehrere Tage freiwillig unterwegs sind.
In der Natur unterhalten sie sich mit einem Jäger, der auf Hirschpirsch ist. Im Zug lernen sie einen pakistanischen Kontrolleur kennen, der ihnen seine Lebensgeschichte und von der Heirat mit einer Schweizerin erzählt.
Etwas ganz Entscheidendes und von unschätzbarem Wert ist eine weitere Erfahrung: Das Veloprojekt bringt den jungen Männern Sicherheit und Freiheit. Sie können sich nun selbständiger bewegen und fahren mit dem Velo ins Training oder zur Schule.
«Ich kenne geeignete Velowege und Velorouten und habe gelernt, dass Velos im Verkehr eine Rolle spielen und ihren Platz haben, anders als in Afghanistan», erzählt Ezharullah. Hayatullah sagt, dass er sich nun besser orientieren könne, wenn er Wege oder Strassen suche. Er folge den aufgemalten gelben Velografiken oder den roten Veloroutentafeln.
Die jungen Männer stellen fest, dass Velofahren in der Stadt und in der Agglomeration einfacher ist als mit dem Auto, Tram oder Bus unterwegs zu sein. Sie haben gemerkt, dass Bewegung guttut. Velofahren hilft Spannungen abzubauen, insbesondere auf emotionaler Ebene.
«Ich habe Freude am Velofahren, ich kann es geniessen und mich anstrengen», sagt Popal. Schüler, die mit dem Velo zur Schule radeln, statt den ÖV zu benutzen, sind im Unterricht wacher, sensibler und im Denken und Lernen beweglicher.
Fast am Ziel: Nun ist es nicht mehr weit, bis nach Bellinzona. (Foto: ZVG)
Während des Integrationsjahrs und der Tour durch die Schweiz haben die fünf Männer viel Erlebt und Erfahrungen gemacht, die ihnen bei der Integration im Gastland helfen. Die jungen Afghanen sind eingeteilt in verschiedene Brückenangebote.
Die einen sind nah dran an einer Vorlehre, andere besuchen gemischte Formen mit Arbeitspraxis und Schulunterricht. Erste Erfahrungen mit der Arbeitswelt haben sie bereits im Integrationsjahr gemacht. Nebst dem Veloprojekt und dem Schulunterricht haben sie verschiedene Schnupperlehren absolviert.
«Das ist sehr wichtig, damit sie ihre zweite Kultur akzeptieren», erklärt Gerhard Weber und ergänzt: «Sie sollen eine Rolle in der Schweizer Kultur spielen». Weber ist sehr zufrieden mit seinen Schülern. Er wird nicht mehr ihr Lehrer sein, aber er wird ihren Weg weiterverfolgen. Er übernimmt wiederum eine Klasse mit unlängst zugereisten, unbegleiteten, minderjährigen Aylsuchenden und wird mit diesen neuen fremdsprachigen, nicht-alphabetisierten, schulunerfahrenen Schülern Velo fahren Richtung Integration.
Von Aesch BL bis nach Bellinzona. Durchquerung Jura und Alpen über 4 Pässe.
Die Vision von Schule + Velo ist es, gemeinsam mit Partnern das Velofahren bei Kindern und Jugendlichen zu stärken, indem es als attraktive und begeisternde Form der Fortbewegung etabliert wird. Durch gezielte Angebote und Unterstützung will Schule + Velo dazu beitragen, dass das Velo in Schulen und im Alltag der Jugendlichen einen höheren Stellenwert erhält. Dadurch können Schülerinnen und Schüler selbständig und sicher mobil sein, gesund bleiben, sozial kompetent werden und ihre motorischen Fähigkeiten verbessern.
Darüber hinaus hat die Förderung des Velofahrens positive Auswirkungen auf die Umwelt und leistet einen wichtigen Beitrag zur Energiewende. Schule + Velo ist eine Informations- und Koordinationsplattform.
Auf www.schule-velo.ch sind die Angebote der Partner rund ums Velo in der Schule aufgeschaltet. Das Projekt bietet auch Empfehlungen, wie die Themen Bewegung, Ernährung, Ressourcenverbrauch, Klimaschutz und Gesundheit fächerübergreifend (z.B. Sport, Hauswirtschaft, Biologie, Physik etc.) unter dem Blick des Velos behandelt werden können. Darüber hinaus gibt der «Leitfaden velofreundliche Schule» wertvolle Hinweise, wie Schulen einfach und schrittweise velofreundliche gestaltet werden können.
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