Gino Mäder trug sich mit dem Gedanken, sich ein Transportvelo zuzulegen – und sein Auto zu verkaufen. Als wir uns eine Woche vor der Tour de Suisse in Albisrieden, wo er zusammen mit seiner Freundin wohnte, zum Gespräch trafen, kamen wir darauf zu sprechen.
Er erzählte, wie sehr er sich jeweils nerve, mit dem Auto zum Hundetraining ans andere Ende der Stadt zu fahren. Aber der Bus sei auch keine Option, weil das Pello nicht behage, seinem nach einem Teamkollegen benannten English Setter. Wir diskutierten Vor- und Nachteile einzelner Lastenvelos, die Mäder nun nie kaufen wird.
So war Gino Mäder. Ein junger Mann, der die Welt und das Leben als Ganzes wahrnahm. Inklusive der Frage, ob es Sinn macht, als Bewohner der Stadt Zürich ein Auto zu besitzen.
Man könnte das selbstverständlich nennen für einen aufgeschlossenen Menschen. Doch in Mäders Berufswelt ist es das nicht. Spitzensportler haben nicht nur enorme physische Talente, sie sind auch Profis darin, ihr Leben ganz dem sportlichen Dasein unterzuordnen.
Sie leben von Training zu Training, von Wettkampf zu Wettkampf. Die Zeit dazwischen dient der Erholung für den nächsten Einsatz. Das hat seine Logik, weil der Körper nur Ausserordentliches leisten kann, wenn er seine ganze Energie dafür verwendet. Wenn nicht Sorgen um die Umwelt ihn beschäftigen oder um die Ungerechtigkeit in der Welt ganz generell.
Er wurde Profi, um die Eltern wieder zu vereinen
Mäder war sich dieses Spannungsfelds bewusst. Vielleicht war er der Gegenentwurf des klassischen Spitzensportlers, der gar Kraft generierte aus diesem Spagat zwischen Leistungssport und Weltoffenheit.
Das musste er bereits in seiner Jugend lernen. Als er 16 war, teilte ihm sein Vater mit, dass er die Familie verlassen würde. Nun war Gino der einzige Mann im Haus, neben seiner Mutter und den drei Schwestern. Er schwor sich, Profi zu werden – um die Eltern dereinst am Streckenrand wieder zu vereinen.
Es gelang ihm. Doch der Weg dahin war nicht geradlinig. Nicht im Nachwuchs, nicht in den ersten zwei zähen Profijahren. Dabei hatte er 2018 brilliert, in seinem letzten Nachwuchsjahr feierte er zwei Etappensiege bei der wichtigsten Nachwuchsrundfahrt Tour de l’Avenir und gab in Innsbruck den loyalen Teamkollegen von U-23-Weltmeister Marc Hirschi.
Doch bei den Profis hatte er zu kämpfen. Auf der einen Seite war da Mäder, der feingliedrige Athlet, damals auch noch ein wenig Luftibus, auf der anderen Seite die Profirealität, mit nichts als harten Trainings. Erst im Spätherbst 2020, am Ende seines ersten Profivertrags, begann er, sein Potenzial anzudeuten. Doch da war die Saison schon fast vorbei – und Mäder noch ohne neuen Vertrag.
Das Team Bahrain bot ihm dann einen an. Mäder haderte. Sollte er Lohnbezüger des Emirs werden, des Mannes, dessen Haltung in grundlegenden Dingen wie Menschenrechtsfragen sich diametral von denen Mäders unterschied?
Der innere Zwiespalt als Lohnbezüger des Emirs
Mäder unterschrieb, weil die Alternative das Karriereende bedeutet hätte. Und er ging offen um mit diesem inneren Zwiespalt zwischen Lohnbezüger und Kritiker. Der Kontakt mit einzelnen Journalistinnen und Journalisten, die Mäder besonders pointierte Aussagen entlockten, wurde ihm vom Team zwischenzeitlich gar untersagt.
Doch Mäder wurde deswegen nicht stiller. Sondern suchte andere Wege, um seine Haltung zu demonstrieren. Er spendete für jeden Fahrer, den er an der Vuelta 2021 hinter sich liess, für ein Hilfswerk in Afrika.
2022 hielt er dies die ganze Saison so und spendete für die Schweizer Gletscher. In einem Interview sagte er, es sei sein Versuch, mit sich im Reinen zu sein. Es klang nicht wie eine Ablasshandlung. Sondern wie ein ernsthafter Versuch, im Kleinen etwas zu bewirken.
Die Radwelt nahm nun von ihm Notiz, weil er zugleich auch auf dem Velo begann, sein Talent zu zeigen. Dort und vor den Mikrofonen, wo er sich mit Vorliebe mit locker auf die Locken gesetztem Velokäppi präsentierte, die Augen voller Offenheit und Schalk.
Fahrer mit besonnener und expressiver Stimme
Dass Persönlichkeiten wie Mäder im Spitzensport nicht die Norm sind, zeigt etwa die Würdigung, die der britische Radjournalist Daniel Friebe auf Twitter schrieb: «Eines der hellsten Lichter im Sport. Ein Fahrer, dessen besonnene, expressive Stimme deine Aufmerksamkeit packte, vom Moment an, in dem er zu sprechen begann. Es fühlte sich stets an, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die breite Öffentlichkeit dieses Licht sehen würde. Denn der Aufstieg würde kommen.»
Gino Mäder war ein Fahrer, der es an guten Tagen mit der ganzen Konkurrenz aufnehmen konnte – egal, wer ihm gegenüberstand. Der als erster Schweizer Profi seit vielen Jahren auch bergauf mit den Besten mithalten konnte. Der einmal im Giro d’Italia auf einer Etappe unschlagbar war, einmal die Tour de Romandie fast gewann und einmal an der Vuelta während dreier Wochen mit den Allerbesten mitkletterte, bis auf Schlussrang 5 und zum stärksten Jungprofi.
Gino Mäder fuhr all diese Resultate ein und liess einen dabei stets mit dem Gefühl zurück, dass das, obwohl definitiv schon absolute Spitzenklasse, noch längst nicht alles war, was sein Körper zu leisten imstande wäre. Damit haderte er auch selber, weil er sich seines Talents und seiner physischen Fähigkeiten wohl besser bewusst war als die allermeisten um ihn herum.
Würde er sie an der Tour de France zeigen? Sein Aufgebot für Juli stand praktisch fest, es wäre seine erste Teilnahme am grössten Radrennen der Welt gewesen.
Das Heimrennen war sein liebstes
Das liebste Rennen des 26-Jährigen war jedoch die Tour de Suisse – kein Sieg war ihm wichtiger als jener vor zwei Jahren in Andermatt, bei der Etappe über den Gotthardpass. Im Ziel erzählte er stolz, wie er in der Abfahrt dank seiner Streckenkenntnisse im Vorteil gewesen sei gegenüber der Konkurrenz.
Die rasante Abfahrt vom Albulapass, hinunter ins Ziel im Engadin, kannte er ebenso gut. Nur half ihm das am Donnerstagnachmittag nichts. Wie und weshalb er stürzte, ist unklar. Die Rettungskräfte fanden Mäder bei einem Bachlauf, 30 oder 40 Meter von der mutmasslichen Unfallstelle entfernt. Vor Ort musste er reanimiert werden, danach wurde er ins Spital nach Chur geflogen, wo er am 16. Juni um 11.30 Uhr starb.
Eine Woche vor der Tour de Suisse hatte er beim Kaffee noch über eine Bestzeit gescherzt, die er im Training am Anstieg von Oberwil-Lieli aufgestellt hatte, auf dem Parcours vom Freitag: «Ob die Zeit nach der Tour de Suisse auch noch Bestand haben wird?», fragte er. Wie gern hätten wir gehabt, dass sie ihm jemand abgejagt hätte, mit Gino Mäder am Hinterrad.
Der Text erscheint mit freundlicher Genehmigung von Tamedia.







