Inspiration für die Verkehrswende

Eine Delegation von Pro Velo reiste an den Kongress Velocity 2023 nach Leipzig. Sie verbrachte vier intensive Tage zusammen mit 1500 weiteren Velobegeisterten und liess sich von der Velostadt insprieren.

Claudia Bucher

Claudia Bucher, Autor
Pro Velo, 14.07.2023

Velocity-Kongress – diese Fachtagung wird alljährlich von der European Cyclists’ Federation (ECF) veranstaltet und in wechselnden Austragungsstädten durchgeführt. Inhalt der Reden und Diskussionen waren die Gestaltung der zukünftigen Mobilitätssysteme sowie die faire Verteilung des öffentlichen Raums – im Wissen, dass dies entscheidend für eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft ist.

Die ECF vertritt die Meinung, dass eine Verlagerung hin zu velo-freundlichen Verkehrssystemen eine Demo­kratisierung des Verkehrssektors und Mobilität für alle bedeutet. Mit dem Kongress bestärkte die ECF die Teilnehmenden darin, den Wandel gemeinsam anzuführen, und stellte den Anlass unter das Motto: «Leading the transition» (den Übergang leiten).

Gerechte Verteilung

Ein vollgepacktes Programm erwartete die Pro-Velo-Delegation in Leipzig. Die Velocity bot mit Seminaren, Ausstellungen und sozialen Anlässen genügend Raum für die Vertiefung nach Interessen und den Austausch.

Neben den grossen Umverteilungs- und Gleichstellungs-Themen zeigten konkrete Projekte und Initiativen, wie verschiedene Städte vorwärtsmachen. Yvonne Ehrensberger, Pro-Velo-Vorstand und Geschäftsleiterin von Pro Velo Zürich, berichtet begeistert: «Velofahren ist eine Ganzjahresaktivität. Schaut nur die Finnen an in Oulu!» Gemeint ist die finnische Stadt Oulu, die als führende Wintervelostadt bekannt ist. In der kalten Jahreszeit bietet sie ein gut ausgebautes Netzwerk für Velofahrende, das dank des gefrorenen Sees sogar mehr Kilometer umfasst als im Sommer.

Speziell in Erinnerung bleibt der Veloexpertin auch ein Referat über die Rolle der Sprache für die Verkehrswende: «Die Sprache ist sehr wichtig, denn sie formt das Denken. Wir dürfen nicht weiter die Sprache des Autozeitalters übernehmen, wir brauchen eine fossilfreie Sprache. Wir tun gut daran, nicht den Graben zwischen Personen auf Velos und Personen in Autos zu befeuern. Es geht um die aktive Mobilität und darum, wie der Verkehrsraum gerecht verteilt wird.»

An der Velocity sprachen zahlreiche Mobilitätskoryphäen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Berufen und zeigten, was möglich ist, wenn mit Mut und Tatkraft die Zukunft gestaltet wird.

Hugo Zbinden, Pro-Velo-Vorstand und Physikprofessor an der Universität Genf, hebt den Lösungsansatz des Pariser Universitätsprofessors Carlos Moreno hervor, der tief in die Stadtplanungsebene geht. Um die Mobilität grundlegend zu verändern, müsse man die Städte anders planen.

Die 15-Minuten-Stadt und das Velo veränderten unseren Lebensstil und brächten neue Lebensqualität. Es sollte keine langen Pendlerfahrten mehr geben, auch nicht mit dem öffentlichen Verkehr. Ein Moment mit Gänsehaut-Qualität kam auf, als Moreno Bezug nahm auf seine Vordenkerin Jane ­Jacobs. Er rief dazu auf, ihr zu Ehren den 4. Mai zum Welttag der 15-Minuten-Stadt zu machen.

Die Sozialaktivistin und Stadtschreiberin Jane Jacobs (4. Mai 1916–25. April 2006) kämpfte während ihrer gesamten Laufbahn für lebenswertere Städte und forderte die Stadtplaner und -entwicklerinnen der Nachkriegszeit dazu auf, sich auf die Bedeutung der Gemeinschaft und des menschlichen Mass­stabs zu besinnen.

Die Velorution steht an

In der von der ECF-Geschäftsführerin Jill Warren moderierten Sitzung «Frauen und Velo» setzten sich die Teilnehmerinnen mit Fragen zu Vielfalt und Inklusivität im Mobilitätssektor auseinander, um die Bedürfnisse von Frauen besser zu verstehen und ihre Sichtbarkeit innerhalb des Sektors zu erhöhen. Ein wichtiger Punkt ist die Distanzierung von der stereotypen Darstellung von Frauen in der Velobranche. Um die Situation zu verbessern, sollten Frauen gefördert werden und Führungspositionen einnehmen.

Kevin Mayne, Geschäftsführer von Cy­cling Industries Europe betonte im Anschluss den Klimaaspekt des Velos sowie den wirtschaftlichen Nutzen. In Europa gebe es zurzeit ungefähr 1,3 Millionen Arbeitsplätze rund ums Velo. Bis 2030 soll eine weitere Million dazukommen, da sich die Nachfrage nach umweltfreundlichen Mobilitätsoptionen weiter erhöhen werde. Angesichts der Klimasituation sei es höchste Zeit, dass wir uns vom Auto als primäres Verkehrsmittel verabschiedeten und stattdessen auf das Velo setzten, um Städte lebenswerter und die Wirtschaft nachhaltiger zu gestalten. Die Velorution stehe nicht nur für einen gesünderen Lebensstil, sondern auch für einen Systemwandel hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft.

Es ging an der Velocity somit um weit mehr als das Velofahren – es ging um Gender- und gesellschaftliche Themen und darum, die Führung für eine lebenswerte und klimafreundliche Zukunft zu übernehmen. Und nicht zuletzt drehte sich der Kongress auch darum, den Austausch untereinander zu fördern und damit viel Energie und Inspiration zu gewinnen, um die Veloförderung in den eigenen Städten und Ländern weiter voranzutreiben und sich für die Verkehrswende verantwortlich zu fühlen.

www.pro-velo.ch/de/themen/anlaesse

Velocity

Zürich hat den Zuschlag für die Austragung eines Velocity-Kongresses nicht erhalten, da die Grossstadt die Bedingungen einer Velocity (noch) nicht erfüllt. Im Gegensatz zu Leipzig. Leipzig ist seit vielen Jahren bekannt als dynamischste und am schnellsten wachsende Grossstadt Deutschlands und steht für den Wandel wie keine andere europäische Stadt. Vor nicht allzu langer Zeit war sie noch vom Kohletagbau, industrieller Stagnation und einer katastrophalen Infrastruktur und Verkehrslage geprägt. Heute verfügt Leipzig über einen Grüngürtel. Die Stadt und die Region setzen auf nachhaltige Mobilität sowie moderne Verkehrslösungen, um die ökonomische und demografische Nachhaltigkeit zu gewährleisten. In Leipzig wird sukzessive ein flächendeckendes Velowegnetz gebaut, um sichere Wege für den alltäglichen Verkehr zu schaffen. Der Vizebürgermeister von Leipzig setzte zu Beginn der Veranstaltung ein deutliches Signal: «Das Fahrrad ist nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Und vor allem macht Velofahren Spass.»

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