Die Unfallstatistik spricht eine klare Sprache. Im vergangenen Jahr starben in der Schweiz 42 Menschen bei einem Unfall mit dem Velo oder E-Bike. Mehr als 1300 Personen wurden bei einem Fahrradunfall (inklusive Elektrovelo) schwer verletzt.
Doch was steckt hinter den nackten Zahlen der Unfallstatistik? Und was sagt die Statistik über die Velosicherheit und den Zustand der Veloinfrastruktur in der Schweiz aus? In einem Artikel in der Zeitschrift «Oekoskop» der Ärztinnen und Ärzte für den Umweltschutz gehen Patrick Rérat und Dimitri Marincek diesen Fragen nach.
Nur die halbe Wahrheit
Laut den zwei Wissenschaftlern des Universitären Observatoriums des Velos und der aktiven Mobilität (Ouvema) an der Universität Lausanne ist die Unfallstatistik nur bedingt geeignet, um die Sicherheit des Velofahrens zu beurteilen. Ein Problem liege in der Art und Weise, wie Unfälle erfasst werden.
Rérat und Marincek kritisieren, dass sich die polizeiliche Erfassung mittels Unfallaufnahmeprotokoll einseitig auf die Verantwortung der Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer konzentriert. «Dies ist durch seinen Hauptzweck bedingt, die Haftung für versicherungstechnische oder rechtliche Zwecke zu ermitteln.» Im Mittelpunkt stehe die Frage, wer zu bestrafen sei und wer zahlen müsse.
«Bei der Festlegung der Strassenbreiten, der Kurvenradien, der zulässigen Geschwindigkeiten, der Gestaltung der Strassenränder etc. wurden die Bedürfnisse der Autofahrerinnen berücksichtigt.»
Patrick Rérat, Dimitri Marincek, Ouvema
Die Forscher legen dar, dass die Erfassung von Velounfällen auf einer vereinfachten Kausalität basiert: der Zustand der Veloinfrastruktur, die Verkehrsbedingungen oder die indirekte Beteiligung weiterer am Verkehr teilnehmenden Personen werde vernachlässigt. Dadurch zeichne die Unfallstatistik ein negatives Bild der Velofahrerinnen und E-Biker in der Schweiz.
Ein Auto zentrierte Sichtweise
Unfallprotokolle wurden für Auto- und Motorradunfälle entwickelt. Genauso wie das Schweizer Strassennetz. «Bei der Festlegung der Strassenbreiten, der Kurvenradien, der zulässigen Geschwindigkeiten, der Gestaltung der Strassenränder etc. wurden die Bedürfnisse der Autofahrerinnen berücksichtigt», schreiben Rérat und Marincek. Die Unfallstatistik basiere in der Folge auf der Annahme, dass ein Unfall aufgrund der hohen Qualität der Strasseninfrastruktur nur durch menschliches Versagen zu erklären sei.
Gemäss den Wissenschaftlern ist die Veloinfrastruktur in der Schweiz aber alles andere als von hoher Qualität. «Das Radwegenetz ist sehr lückenhaft, separate Radstreifen fehlen oft oder sind nicht breit genug. Radfahrerende müssen sich in einer Infrastruktur zurechtfinden, die meist nicht auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist.»
Ein neuer Ansatz ist gefragt
Rérat und Marincek fordern darum einen Perspektivenwechsel hin zu einer «systemischen Sichtweise». Damit meinen sie, dass Unfälle nicht primär als Fehler einer Person, sondern als Beispiel für eine Fehlfunktion des Strassennetzes zu verstehen sind. Damit ist es zwingend notwendig, die Veloinfrastruktur sicherer und fehlerverzeihender zu gestalten. Die Wissenschaftler sprechen sich auch für eine stärkere Trennung von motorisiertem Verkehr und Radfahrenden aus.







