Von Warenengpässen nahtlos zu übervollen Lagern

Während zweier Jahre war die Velobranche wegen der hohen Nachfrage auf der Jagd nach Handelsware. Mit dem Einbruch der Konjunktur hat sich die Situation radikal geändert: Nun werden hohe Lagerbestände zum Problem.

Laurens van Rooijen, Redaktor (lvr@cyclinfo.ch)
Branche, 01.12.2022

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Das Velo und insbesondere das E-Bike gehörten in den Pandemiejahren zu den unbestrittenen Gewinnern. Während die Nachfrage enorm hoch war, konnte die Industrie mit der Produktion nicht Schritt halten. Und weil die Warenversorgung in den Jahren 2020 und 2021 ungenügend war, setzten Fachhändler wie Importeure auf eine weitere Erhöhung ihrer Vororder. Dadurch sah sich die Industrie noch grösseren Rückstanden an Bestellungen gegenüber, und die Lieferzeiten stiegen weiter an. Dann aber überfiel Russland die Ukraine und provozierte in der Folge eine Energiekrise. Als Folge des Kriegs in der Ukraine stieg die Inflation markant an, während die Konsumentenstimmung absackte und grössere Anschaffungen hinausgeschoben wurden.

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SRF-Wirtschaftsredaktorin Lucia Theiler hat zu den hohen Lagerbeständen in der Velobranche
recherchiert und einen Bericht produziert - der Link dazu ist am Ende dieses Artikels zu finden.

Stornierungswelle traf Produzenten in Fernost hart
Leider konnte die Industrie - egal ob in Europa oder in Asien - ihre Produktion nicht annähernd so schnell herunterfahren, wie die Konjunktur in den wichtigsten Absatzmärkten auf Talfahrt ging. Der Vergleich mit einem Öltanker drängt sich auf, bei dem weder Vollbremsungen noch schnelle Kurskorrekturen möglich sind. Im Juli, als sich die Branche bei der Premiere der Eurobike in Frankfurt am Main selbst feierte, setzten bereits die Stornierungen grosser Marken bei ihren Produzenten in Asien ein. Ob Accell Group, Specialized oder Trek, sie alle annullierten die Bestellung von hunderttausenden von Velos und E-Bikes. In der Summe fielen so kurzfristig über 2 Millionen Einheiten aus den Orderbüchern.

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Während der Recherche-Tour in Taiwan in der Kalenderwoche 45 arbeitete keine Fabrik auf
vollen Touren. Dafür können bei reduziertem Betrieb neue Angestellte angelernt werden.

Angesichts der hohen Lagerbestände bei Fachhändlern wie Importeuren in den Zielmärkten hätte es keinen Sinn gemacht, auch diese Velos noch in den Markt zu drücken. Das hätte nur die Tendenz zu ruinösen Rabattschlachten und zum Verlust von Margen weiter befeuert. Wegen der kurzfristigen Stornierungen sitzen nun aber nicht nur die Fachhändler in den Absatzmärkten, sondern auch die Produzenten auf beunruhigend hohen Lagerbeständen. Das ist bei Gütern, die nicht klar einem Modelljahr zuzurechnen sind, weniger problematisch. Richtig hart trifft es die Assemblage-Betriebe, welche die ganzen Komponenten und Teile einkaufen, die Rahmen lackieren und mit Aufklebern versehen und Velos wie E-Bikes nach Spezifikation aufbauen. In diese Kategorie fallen auch ganz grosse Akteure wie Giant und Merida.

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Einige Hersteller haben auf Flächen wie Parkplätzen behelfsmässig grosse Zelte aufgestellt,
um fertige Handelsware auf Paletten vor UV-Strahlung und Regen geschützt zu lagern.

Ausserordentliche Situation erfordert ausserordentliche Massnahmen
Brancheninsider gingen vor wenigen Wochen bei Interviews in Taiwan davon aus, dass Ware für ein volles Jahr entlang der ganzen Wertschöpfungskette auf Lager liegt. Und dass sich die Situation daher nicht vor Ende 2023 bessern dürfte. Wegen steigender Zinsen und Mieten sowie höherer Heiz- und Stromkosten drohen gar Liquiditätsengpässe, die einige Marktteilnehmer in die Knie zwingen könnten. Das mag nach den Rekordjahren 2020 und 2021 seltsam klingen, ist aber eine bittere Realität. Einen einfachen Ausweg aus dieser Zwickmühle gibt es nicht. Im Interesse aller Marktteilnehmer sollte dringend darüber nachgedacht werden, das Modelljahr 2024 komplett zu streichen, um Wertverluste der Lagerware so weit wie irgend möglich zu minimieren. Aber ob die Branche dazu bereit ist?

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Viele Hersteller in Taiwan haben in den vergangenen drei Jahren stark in ihre Produktion investiert.
Ausser auf Robotern lag ein Schwerpunkt dabei auf datengesteuerter Optimierung der Produktion.

Cyclinfo-Redaktor Laurens van Rooijen weilte von 6. bis 21. November in Taiwan, um sich vor Ort ein Bild von der Lage der dortigen Veloindustrie nach fast drei Pandemiejahren zu machen. Auf vollen Touren lief dabei keine der 14 binnen einer Woche besuchten Fabriken - dafür waren die Lager mit fertiger Handelsware durchs Band umso voller. Ein umfangreicher Bericht zu dieser für die Branche höchst unerfreulichen Situation ist in der letzten Velobiz-Printausgabe des Jahrgangs 2022 zu finden, welche am 1. Dezember erschienen ist.

SRF-Bericht: «Nach Lieferchaos: Lager der Velohändler sind übervoll» (Link)

Fotos: Screenshot SRF (1), LvR (4)

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