Ein zentraler Begriff für diese Geschichte: «Ziele». Er verträgt sich bestens mit der Entwicklung des ersten Fahrradreifens, der wirklich die Anforderungen eines Verkehrsmittels erfüllen sollte. «Da gehörte schon Mut dazu», meint Frank Bohle, Geschäftsführer der Ralf Bohle GmbH, die seit 50 Jahren die Marke Schwalbe führt. «Mut, alles auf die Karte «Fahrradreifen» zu setzen und einen Reifen zu entwickeln, der viel höhere Anforderungen erfüllen sollte als damalige Reifen.» Denn Vater Ralf Bohle nutzte in den Achtzigerjahren die Ambitionen eines jungen Mannes – Wolfgang Reiche –, der per Fahrrad auf Weltreise ging: Er bekam die Pneus von Bohle gesponsert und gab dafür per Brief und Fax Feedback über Abnutzung und Beschädigungen und was verbessert werden sollte.

Frank Bohle, der Sohn des Gründers der Marke Schwalbe, Ralf Bohle, ist seit dem Jahr 2000 CEO.
Bei Schwalbe setzte man sich an die Weiterentwicklung, und bei der nächsten Prototypen-Sendung war die Schwachstelle dann ausgemerzt. Es entstand das Herzstück des Schwalbe-Portfolios: der Marathon, der Reifen, der die heutige Marktführerschaft Schwalbes in Europa in die Wege leitete.

Innovation und Technologie um Produkte und Materialien so zu gestalten, dass sie in geschlossenen Kreisläufen zirkulieren können.
Eingebauter Umweltschutz
Wir sitzen in einem hellen Besprechungsraum am Bohle-Sitz in Reichshof mit dem grossen Schwalbe- Logo an der Fassade. Der Anbau wurde vor zwei Jahren fertiggestellt, nach dem Prinzip «Cradle to Cradle», nach dem jeder Baustein einmal wiederverwertet werden kann – Nachhaltigkeit ernst genommen. In Atrien und dem Eingangsbereich finden sich gebäudehohe, begrünte Wände, die Natur in den Bau bringen.
Schwalbe ist eine der bekanntesten Marken der Branche. Hier arbeiten gut 200 Menschen. Einer davon: Entwickler Peter Krischio, der das Rennrad- und Gravel-Segment seit 2013 vorangetrieben hat. Er entwickelte den G-One Allround, «heute eine Ikone», sagt der Mann mit dem vollen, grauen Bart nicht ohne Stolz.

Schwalbe hat auf 720 m² eine Erlebniswelt geschaffen, um in die Produktwelt einzutauchen.
Testzentrum mit Historie
Wie so eine Entwicklung startet? Krischio zeigt uns die Skizze eines Reifenprofils. «Immer von der persönlichen Erfahrung her», so der Rennrad-Nerd. «Ich denke während der Tour, dass wir einen Reifen für dieses Terrain benötigen, und mache mir Notizen.» Und von diesen bis zu den ersten 3-D-Modellen ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Natürlich geht’s dann technisch erst los: Wie viele Karkassen-Lagen, welchen Gummi-Compound, welchen Pannenschutz braucht der? Die ersten Prototypen entstehen beim Partner Hung-A in Indonesien, und werden gefahren, was das Zeug hält. Labortests laufen parallel. Entscheidungen fallen, zig Optimierungsschritte werden getätigt, und mit Tausenden Testkilometern entwickelt sich Marktreife. «Heute haben wir acht Gravel-Profile so Krischio».
Vom Pneu mit Slickartiger Mittellinie bis zum Reifen mit MTB-Profil. Als Kunde kann man sich bei der Wahl des richtigen Reifens für die Gravelrunde überfordert fühlen. In Zukunft will man aber auf «drei, vier Gravel-Modelle» herunterfahren. Was übrigens den Schweizer Markt anbelangt, ist man stolz, auch hier Marktführer in Sachen Gravel, SUV und Touren-Reifen zu sein. Der MTB-Markt ist da deutlich umkämpfter.

Das zentrale Labor führt fortgeschrittene Tests durch, die über die gesetzlichen Normen hinausgehen.
«Unser Labor ist im Zentrum des Unternehmens», erklärt uns PR-Manager Steffen Jüngst bei der Führung, und meint das wörtlich: Die Räume mit grossen Maschinen hinter Glas sind nach dem Anbau in der Mitte des weitläufigen Gebäudes. Hier knallen Fallbeile mit definiertem Gewicht auf pralle Reifen, wird Wasser in Schlauchlos-Laufräder gepumpt bis sie abspringen, laufen zukünftige Rennrad-Reifen über Trommeln, die Rollwiderstand messen. «Bei Sicherheitsprüfungen sind unsere eigenen Vorgaben deutlich höher als vorgeschriebene Normen», erklärt Labormitarbeiter Lars Funke, der uns die Maschinen zeigt. So werden Lastenrad-Reifen nach Normen getestet, die deutlich höher als die tatsächlichen Belastungen liegen. Das Labor wird seit Jahrzehnten betrieben, immer wieder kommen neue Maschinen hinzu. Die lange Erfahrung macht es den Marathonisti leicht, sich selbst Ziele zu setzen. Wie etwa auch mit dem leichten und einfach laufenden Aerothan-Schlauch, der als einziges Produkt in Deutschland hergestellt wird. Klein und Handarbeitsintensiv ist die Produktionslinie des hochwertigen und -preisigen Schlauchs, der vor allem für Rennradler interessant ist.
Nachhaltig? Schon immer!
Corporate Social Responsibility (CSR), also Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung war für Schwalbe schon immer ein Thema. Ältere Velo-Fans erinnern sich daran, dass bereits in den 90er-Jahren Händler ausgediente Pneus und Schläuche sammelten, die das Unternehmen zu Werkstatt-Bodenmatten weiterverarbeitete. Für CSR ist, mit einem Team von mittlerweile sechs Leuten, Felix Jahn verantwortlich. «Das Matten-Recycling war uns damals schon zu wenig», erzählt er. «Wir wollten ‹Cradle to Cradle›», vollständiges Recycling auf gleichem Qualitätsniveau. Das gibt es seit 2023 mit dem Green Marathon. «Er besteht aus 80 Prozent recycelten und nachwachsenden Materialien. Uns war ganz wichtig, dass der erste Kreislaufreifen ein langlebiger Marathon ist. Wenn ein Alltagsreifen nur 5000 Kilometer hält, ist die Akzeptanz für solch umweltfreundliche Produkte nicht vorhanden.» Zum Unternehmensziel gehört auch fairer Handel: Der neue Marathon besteht zu 100 Prozent aus Fairtrade-Kautschuk. Dazu wurden auf Java und Sumatra Kooperationen mit Kleinbauern gegründet – separate Lieferketten, faire Bezahlung. Herausforderungen gab es genug: «Wir mussten unter anderem Zulieferer überzeugen, nachhaltige Rohstoffe zu liefern.» Viel Arbeit: Schliesslich besteht ein Reifencompound aus Hunderten von Ingredienzien.»

Die vietnamesische Reifenproduktion in Hung-A.
Zuversicht als Markenkern
Schon seit langem gab es Pläne, die Markenkommunkation Schwalbes zu überarbeiten. Gleichzeitig wollte man sich endlich den Traum von einer konkreten Darstellung nach aussen erfüllen: «Ich dachte an ein Museum», erklärt Bohle. «Im Entwicklungsprozess haben wir uns aber für eine Markenwelt entschieden, und wir sind alle sehr glücklich damit.» Auf mehreren Hundert Quadratmetern wird die Firmenhistorie in Wort, Bild und Ambiente dargestellt, von den ersten Anfängen 1922 bis heute – und viel mehr. Aber es geht nicht um das Abklappern von Highlights: Die Besucher laufen durch den Regenwald, riechen den Naturkautschuk und lernen zu verstehen, wie sein Abbau funktioniert. In Räumen laufen Wände füllende Videos, etwa mit der Darstellung der Reifenproduktion beim Partner Hung-A in Vietnam, sodass man fast das Gefühl hat, dabei zu sein. Industriepartner, Händler, Radreisende, in Zukunft auch Schulklassen und andere interessierte Gruppen können hier das Schwalbe-Feeling kennenlernen. «Bei der Konzeption haben wir gemerkt: Die Markenkommunikation muss modernisiert werden», so Frank Bohle. Ausserdem fehlte ein Roter Faden zwischen den einzelnen Segmenten wie Rennrad- und Alltagsreifen.
Unterschiedliche Schriften, unterschiedliche Ansprache. Das wollte man angehen. Aber bleibt bei einer völlig neuen Kreation nicht die Tradition auf der Strecke? «Gar nicht», so der Schwalbe-Chef. «Wir haben uns ja ständig im Wandel befunden, sonst wären so viel Innovationen und Weiterentwicklungen gar nicht möglich gewesen. Das ist ein Teil unserer Tradition.» Philipp Jahn, wie sein Bruder Felix Teil der Familie um den Geschäftsführer und Head of Marketing und Brandmanager, ergänzt: «Es ging gar nicht darum, uns neu zu erfinden, sondern den Fokus unserer Arbeit herauszustellen. Wir haben uns gefragt: Was haben alle Radfahrerinnen und Radfahrer gemeinsam? Sie wollen ihr Ziel erreichen, egal ob es um die Einkaufsfahrt oder den Mount Ventoux geht. Wir ermutigen sie!» «Get there!», so der verstärkende Slogan hinter dem Namen.

Auf Messen wird die neue Markenkommunikation konsequent umgesetzt.
Neues Logo und Markenidentität
Mit der Agentur «Neuer Weg» schuf man einen Schriftzug, der dynamisch wie ruhig wirkt, zuversichtlich wie vertrauenerweckend «Abwechslungsreich wie die Wege einer Tour», erklärt Jahn. So wirkt das Logo auf viele Menschen trotz der Mixtur von mehreren Stilmitteln, von runden und eckigen Buchstaben, harmonisch, zuversichtlich und nach vorn gerichtet. Die alte Abstraktion der Schwalbe ist einer spitz zulaufenden Silhouette gewichen. Und das Ganze präsentiert sich vor einem neuen, wesentlich helleren, luftigen Blau. Der «Fokus liegt bei uns auf Zuversicht und einem positiven Grundgefühl» so Bohle. Das nimmt man ihm gerne ab. Natürlich hätte auch er es sich «gern gewünscht, dass unser neuer Auftritt in einer wirtschaftlich weniger schwierige Zeit fällt.» Vor kurzem musste auch Schwalbe für 2023 Umsatzrückgang melden. Auch geht Bohle durchaus kritisch mit der Branche um, hält einen Teil der Probleme, mit denen sie seit zwei Jahren kämpft, für selbstgemacht. Doch aus alldem spricht auch die Zuversicht und das Vertrauen auf den Mut, weiterhin herausfordernde Ziele anzusteuern – und zu erreichen. Get there!
Schwalbe – Ralf Bohle GmbH
Gründung: 1922 von Eugen und Willy Bohle
CEO: Frank Bohle
Sitz: Reichshof bei Gummersbach
Fläche am Standort: 40 000 m2 Grundstücksfläche, davon 9000 m2 Lager
Mitarbeiter: 212 (69 in NL, UK, FR, IT, US und CA)
Produkte: Fahrradreifen und -schläuche, Rollstuhlreifen und -schläuche
Export: Weltweit
Jahresumsatz: 237 Mio. Euro (2023)
Fotos: Georg Bleicher, Ralf Bohle GmbH







