Auf der Kunststrasse immer aufs eigene Herz hören

Das Stilfserjoch steht geografisch, historisch und kulturell an einer europäischen Nahtstelle, und es ist ein verrückter Pass. Ab 1820 wurde die Strasse mit ihren 48 Haarnadelkurven innert nur vierer Jahre gebaut. Fitte RadlerInnen werden diese Überquerung nicht vergessen; unfitte noch weniger.

Dres Balmer, Autor (dres.balmer@bluewin.ch)
Reisen, 20.09.2002

In unserer vorletzten Nummer haben wir den Grossglockner vorgestellt, den schönsten Pass in den Ostalpen. Und heute berichten wir vom hässlichsten, vom Stilfserjoch (2758 m.ü.M.). Das sind zwei Extreme, die einen Zusammenhang haben. Bis zum Ersten Weltkrieg war der Ortler der höchste Berg und das Stilfserjoch der höchste Strassenpass der kaiserlichen und königlichen Donaumonarchie und Europas. Durch den Krieg wurden beide Übergänge italienisch, dafür rückte der Grossglockner in der österreichischen Rangliste auf den ersten Platz vor. In den Zwanziger- und Dreissigerjahren begann in den Alpen, den Pyrenäen und in der südspanischen Sierra Nevada ein fieberhafter Bauwettbewerb um die höchsten und spektakulärsten Bergstrassen. Das Stilfserjoch wurde, je nach Lesart, die Nummer vier oder fünf in Europa.

Gemächlichere werden «gefressen»

Jede sportliche Radlerin, jeder sportliche Radler, die oder der etwas auf sich hält, ist mindestens einmal im hoffentlich langen VelofahrerInnenleben am Stilfserjoch anzutreffen, und zwar in Bergfahrt vom Südtirol her. Eine stolze Sache ist das. Bis zur Passhöhe sind es 1870 Höhenmeter und 28 Kilometer. Das ist glatt das Doppelte der meisten anderen Alpenpässe, die man auch schon als Herausforderung empfindet. Auf den ersten fünfzehn bis zwanzig Kilometern sollte man die Nerven behalten. An einem schönen Sommertag sind dort nämlich Hunderte Gümeler auf den schönsten Velos und in den buntesten Tricots unterwegs, die sich einen Spass daraus machen, die etwas gemächlicheren Velofreunde dutzendweise zu verheizen, zu schrauben, zu fressen, abzutrocknen, stehen zu lassen, abzustechen, zu begraben und wie die Ausdrücke alle heissen. Davon darf man sich nicht irritieren lassen, man muss die Schnelleren einfach ziehen lassen und darf nur auf das eigene Herz hören, denn der Weg ist noch lang und mühevoll. Und siehe da: Manch einen von denen, die im unteren Teil an einem vorbeigehetzt sind, trifft man weiter oben wieder an, in den steilsten Rampen Schlangenlinien würgend, mit violettem Kopf, weil er seine Kräfte über-, das Stilfserjoch unterschätzt hat.
Ein verrückter Berg ist das. Auf der einen Seite, im Vinschgau, spricht man Deutsch, auf der anderen Italienisch. Es kommt einem vor, im Südtirol, das ja politisch zu Italien gehört, werde ein Super-Germanismus gepflegt, wohl als Reaktion auf die Italianisierungspolitik geht es hier teutonischer zu und her als in Bayern, und viele Südtiroler bezeichnen sich als Deutsche, was kulturell gemeint ist. Wieder einmal erklärt die Geschichte einiges. 1815 wurde die Lombardei Österreich zugeschlagen, eine Strassenverbindung zwischen Tirol und Mailand drängte sich aus strategischen Gründen auf. Der Bau einer so genannten «Kunststrasse» über das Stilfserjoch wurde 1820 in Angriff genommen und in bloss vier Jahren vollendet. Übrigens wurde die Strasse bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das ganze Jahr über offen gehalten.

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Franz I. kriegte weiche Knie

Zwei Kaiser aus Wien nahmen das Wagnis auf sich, mit ihrem Gefolge über den Pass zu fahren. 1832 kam Franz I. vom Vinschgau her, machte im Gasthaus beim Kilometer 22, das später nach ihm «Franzenshöhe» getauft wurde, einen Halt. Er blickte in den gegenüberliegenden Felshang, sah die zwei Dutzend luftigen Serpentinen und bekam weiche Knie. Am liebsten wäre er umgekehrt, doch er fürchtete die Blamage. So zog er die Vorhänge des Kutschenfensters zu und blieb nur kurze Zeit auf der Passhöhe, wollte weiter, nach Mailand. Wie Franz geht es auch manchem Radler, nur hats am Velo keine Vorhänge. 1838 nahm sein kränklicher Sohn Ferdinand I. denselben Weg unter die Kutschenräder, und seine Entourage staunte nicht schlecht, als es dem Thronfolger mit jedem Höhenmeter wohler wurde. Auf der Passhöhe gab es ein Fest, und das Stilfserjoch sollte einen neuen Namen bekommen: «Ferdinandshöhe». Die Bezeichnung hat sich aber nicht durchgesetzt.

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Mit Schnudernase auf den Pass

1859 verlor Österreich die Lombardei, behielt aber das Südtirol, und das Stilfserjoch wurde ein Grenzpass. Im Ersten Weltkrieg wurden um die Passhöhe von den Italienern und den Österreichern Schützengräben und unterirdische Festungen gebaut, hier fand der erste Krieg im Hochgebirge statt, drei Jahre lang. Dieser Krieg, die Kälte und die Lawinen forderten hunderttausend Tote. So hoch oben sind in so kurzer Zeit noch nirgends so viele Leute umgebracht worden, bzw. ums Leben gekommen. Auch ein Rekord. Gleich über der Passhöhe ist ein Berglein, das den einträchtigen Namen Dreisprachenspitze trägt, italienisch Cima Garibaldi. Während des Ersten Weltkriegs hatten die Schweizer hier einen Armeeposten und beobachteten mit ihren Feldstechern, wie sich die verfeindeten Nachbarn piesackten.
Ungemütlich ist es hier auf der Passhöhe. Es zieht. Durchzug, im doppelten Sinn: Es luftet, und alle wollen durch. Bleiben tut hier oben kaum jemand. Darum heisst es ja Pass. Jeder Pass ist ein Passe-vite. Ausgefranste Flaggen knattern im Wind. Staubschwaden huschen über den Platz und spielen mit dem Unrat, der da herumliegt. Ein Betonmischer rattert. Auf dem Flachdach des Hotels Perego jault ein Schäferhund. Souvenirläden, Wurststände, Skivermietungen, Kneipen. Alles überstellt mit Motorrädern. Pro Velo schätzungsweise hundert Töffs. Allgemeine Unrast, obwohl man doch oben ist. An der Nasenspitze bildet sich ein Tropfen, wie im Winter. Sand knirscht zwischen den Zähnen, wie in der Wüste. Nur die Hauptstrasse ist asphaltiert, daneben ist alles Kies, Dreck, Staub. Eine ewige Baustelle, die seit zwanzig Jahren gleich aussieht. Niemand weiss, was gebaut wird. Die Sommerskifahrer sind mit dem Auto heraufgefahren, steigen in die Gondelbahn, suchen weiter oben Schnee. Sommerskifahren ist noch elender als Winterskifahren. Seltsame Zombies, diese Skifahrer. Sie denken von uns Velofahrern wahrscheinlich etwas Ähnliches. Zum Teil sind wir ja auch nicht schön anzusehen, wenn wir mit verzerrtem Gesicht, hin- und herpendelnder Schnudernase hier oben ankommen und vor Erschöpfung kaum vom Velo steigen können. Wir drücken am Computer herum, sehen die Herzfrequenz nach. Wir lichten uns gegenseitig unter dem Passschild ab, trinken einen Tee, bevor wir uns mit steifen Beinen hinunter nach Bormio stürzen.

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Information:

Steckbrief: 
Das Stilfserjoch (2758) ist einer der anforderungsreichsten Alpenpässe, vielleicht der gröbste. Von Spondinig (887) im Südtirol führt die Strasse über 48 nummerierte Haarnadelkurven, 1870 Höhenmeter und 28 km zur Passhöhe. Von hier bis zum anderen Talort Bormio (1217) zuoberst im Veltlin sind es 22 km berauschende Abfahrt mit einigen unbeleuchteten Tunnels. Vorsicht!

An- und Rückreise:
Das Stilfserjoch liegt mitten in einem attraktiven Pässekarussell und lässt sich einbauen in eine Mehrpässefahrt. Zum Beispiel: mit der Eisenbahn bis Zernez, zum Anwärmen über den Ofenpass (2149) und nach Müstair über die Grenze nach Spondinig, wo das Leiden beginnt. Wer es weniger heftig mag, fährt von Santa Maria (1375) über den Umbrail ( 2501, eine Schönheit, z.T. gute Naturstrasse) zum Stilfserjoch. Von Bormio nach Tirano, wo man wieder in die RhB steigen kann. Zwei Umwege für Unentwegte: 1) Von Bormio über die Pässe Foscagno (2291), Eira (2210) und Forcola di Livigno (2315) zu Bernina-Passhöhe (2323) und von dort nach Samedan; Foscagno und Eira haben scheusslich viel Durchgangsverkehr bis Livigno. 2) Von Bormio über den Gavia-Pass (2621, grossartig) nach Ponte di Legno, Edolo und Tirano. Mögliche Variante: 2 km nach Incudine rechts ab nach Monno, über den einsamen Mortirolo-Pass (1896) und via Grosio nach Tirano.

Unterkunft und Verpflegung:
Auf dem Stilfserjoch stehen mehrere Hotels, in denen niemand bleibt. Eine Reservation ist deshalb nicht notwendig.

Kultur:
Auf der Passhöhe gibt es noch immer keinen Briefkasten. Dafür hat es eine Bank, wo man für die Passfahrt gratis eine Urkunde bekommt. Im Bankgebäude befindet sich auch das Verkehrsbüro und ein (Kriegs-) Museum.

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