Von der Schweiz in die Türkei: Alpen, Karpaten und Meere

Von Westeuropa an die Grenze zu Asien, durch viele Berge, lange Ebenen und acht Länder, vom Rhein über Inn und Donau bis ­Bosporus ist es ziemlich weit. Unser Autor hat die Fahrradreise dennoch gewagt.

Dres Balmer, Autor

Dres Balmer, Autor (dres.balmer@bluewin.ch)
Reisen, 27.09.2024

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Seit langem träumen Lukas und Ludwig davon, aus der Schweiz nach Istanbul zu reisen. Beide Namen, Lukas und Ludwig, beginnen mit Lu. Das Ziel Istanbul endet umgekehrt auf -ul. Also braucht auch der Startort die Endung -ul: Agasul! So geht der Schüttelreim auf, und es gilt: Mit Lukas und Ludwig von Agasul nach Istanbul.

Die Abendsonne bringt die Zelte auf dem Campingplatz in Feldkirch zum Leuchten. Dann tobt während des Nachtessens ein Gewitter übers Land. Am folgenden Morgen ist die Luft kühl, die Morgenlandfahrer packen die pflotschnassen Zelte ein. Mit drei Kilo Regenwasser Mehrgewicht im Gepäck nehmen sie die Pässe Vorarlbergs unter die Räder.

Erst ist der Himmel gnädig weiss, während der Abfahrt vom Furkajoch erleichtert er sich. Den Hochtannbergpass überwinden sie in eisigem Regen, hinter dem Hahntennjoch schlottern Glieder und Vorbau bis Innsbruck. 

Zillertaler Höhenstrasse, wie nett das klingt! Man denkt, das sei eine Girlande, die sich an der Höhenkurve ins Tal schlängle. Ihr Profil ist aber das eines Alpenpasses. Die schmale Strasse mit langen 20 %-Rampen ist so brutal, dass auch nur wenige Autofahrer sich hierher trauen. Die drei Toureros sind die einzigen Radfahrer ohne Elektromotor. Heute ist Kaiserwetter, die Sonne sticht vom Himmel, es ist 35 Grad warm, die Etappe grandios, der Schweiss reichlich. Weiter östlich währt die Hitze nur bis zum Ort mit dem Namen Fieberbrunn; der passt an diesem Tag. Danach überwinden sie noch fünf Kuppen bei so scheusslichem Wetter, dass die Abfahrten gefährlich sind. In Graz haben sie es geschafft, und geschafft sind auch sie.

 

Elektriker und Raser

Eine Befreiung von den verdammten Bergen sind in Ungarn die weiten Ebenen Richtung Plattensee mit ihren luxuriösen Campings und Velostrassen. Auf denen schweben Hunderte elektrifizierte Damen und Herren bis Budapest. Dort brummt bei 40 Grad mächtiger Touristenrummel, und Radler sind auch Touristen. Von da an südwärts sind sie wieder die einzigen drei auf Velos, suchen vergebens nach dem Radweg. Auf stark befahrenen Strassen mit anständigen Autofahrern kämpfen sie sich die Donau entlang bis Dunaföldvár, dann von Szeged hinüber nach Arad in Rumänien.

«Nach acht Tagen ist die Party die langweiligen Ebenen leid. Wie eine Verheissung zeichnen sich am Horizont die Höhen­züge der Karpaten ab.»

Nach acht Tagen ist die Party die langweiligen Ebenen leid. Wie eine Verheissung zeichnen sich am dunstigen Horizont die Höhenzüge der Karpaten ab. Um zu ihnen zu gelangen, spuren sie in Arad auf die Europastrasse 68 nach Osten ein. Die ist heftig befahren, hat nur teilweise einen schmalen Seitenstreifen. Automobilisten überholen und kreuzen in Gegenrichtung auf Ellbogennähe. Velofahrer gelten nicht als Gegenverkehr. Es herrscht automobile Anarchie, viele Fahrer respektieren weder Sicherheitslinien noch Geschwindigkeitsbeschränkungen. 

Lukas und Ludwig haben Navigationsgeräte an Bord, die den Weg auf kleinere, autoarme Strassen weisen. Auf denen schaukeln sie durch stille Landschaften. Zuweilen gilt diese Faustregel: Je schöner die Landschaft, desto schlechter die Strasse. Lukas und Ludwig sind mit ihren fetten Reifen besser dran als der Reporter auf seinen dünneren. Der lässt die Freunde ziehen, kommt etwas später an.

Mitten in Rumänien, zwischen den Regionen Siebenbürgen und Walachei, erheben sich die Transsilvanischen Alpen, welche zu den Karpaten  gehören. Über dieses Massiv führen zwei parallele Gebirgsstrassen in Nord-Süd-Richtung, dazwischen liegt das Olt-Tal. Das Gruppetto will in einem kleinen Slalom beide Strassen entdecken, ohne zu sehr von der Hauptroute, Agasul– Istanbul, abzuweichen.

Nebel und Bären

Die erste Bergstrasse heisst Transalpina. Sie beginnt in Sebeș, führt durch Äcker und Weiden in ein Tal, das sich verengt. Die Flanken links und rechts werden jäher, die Strasse steiler, die Vegetation und die Sinfonie der Vogelstimmen immer üppiger. Es gibt kaum mehr Landschaft zu sehen bis hinauf zu zwei Stauseen, an denen der Ausblick sich kurze Zeit etwas weitet.

Dann wieder Dschungelfahrt über den Pasul Tărtărău in eine Senke, durch diese hinauf zur Waldgrenze, und mit einem Schlag ist freie Sicht zu den Bergkuppen, über die Schattenflecken huschen. Die Strasse ist steil, der Wind harsch und kalt. Die Radler glauben schon, es geschafft zu haben, doch da ist noch eine Senke, und zum Pasul Urdele ist die letzte scharfe Steigung zu bewältigen. Auf dieser grandiosen Fahrt sind keine anderen Radler zu sehen, nicht einmal elektrifizierte.

«Die Szenerie ist gespenstisch, es gehen einem düstere Gedanken durch den Kopf. Diese Kunststrasse wurde in den Jahren 1970 bis 1974 auf Befehl des Diktators Nicolae Ceaușescu aus dem Boden gestampft.»

Rummel und Einsamkeit

Durch das Olt-Tal hinauf fährt die Gruppe zurück nach Norden, nach Cârțișoara. Hier beginnt die zweite Überquerung auf der Hochstrasse Transfăgărășan. In der Ferne verbirgt sich das Gebirge im Nebel, das Gelände bis dorthin ist weitläufig. Die Strasse ist perfekt, die Steigung wohldosiert, Verkehr und Einrichtungen für Reisende sind emsig. Da verschluckt der Nebel die Radler, wird so dicht, dass die Autofahrer in behutsamer Fahrt die Pannenlämpchen blinken lassen. Die Szenerie ist gespenstisch, es gehen einem düstere Gedanken durch den Kopf. Diese Kunststrasse wurde in den Jahren 1970 bis 1974 auf Befehl des Diktators Nicolae Ceaușescu aus dem Boden gestampft. Es musste schnell gehen, und dabei kamen Hunderte Arbeiter ums Leben. 

Auch in Bâlea Lac, am See vor dem Scheiteltunnel des Pasul Paltinu, sind Läden und Herbergen sonder Zahl. Es herrscht grosser Rummel, denn hier ist ein beliebtes Wandergebiet, gut erschlossen dank Ceaușescu. Am Horizont ragt des Landes höchster Berg Moldoveanu 2543 Meter hoch in den Himmel. Es folgt bei schönstem Wetter südwärts die Sause hinunter ins Tal der Bären. Vielfach hat man die Fahrer vor ihnen gewarnt. Am Strassenrand sehen sie drei Exemplare, die lassen sie in Ruhe. Auch auf dieser Traumstrasse sind sie die einzigen Velofahrer. 

Zikaden und Störche

Die Morgenlandfahrer haben Alpen und Karpaten erobert, zwei Gebirge also. Nun zieht es sie zu den Meeren. Da gibt es ebenfalls deren zwei, das Thrakische und das Marmarameer. Sie verlassen die quirlige Stadt Turnu Mâgurele, folgen dem Donauwasser ostwärts und kommen in eine andere Welt. Auf der guten Strasse sind wenige Autos unterwegs, die Dörfer sind so arm, dass kaum eine Kneipe oder Herberge zu finden ist. Dafür sind da plötzlich Menschen, welche die Velofahrer freundlich grüssen, ihnen Sympathie zeigen. Die Natur ist zuweilen erdrückend, sie durchqueren riesige Ebenen, unendlich erstrecken sich die Sonnenblumen- und Maisfelder bis ins All, das Zirpen der Zikaden betäubt die Ohren, die Flugbahnen der Störche betören die Augen.

Im Dorf Suhaia ist ein einfacher Zeltplatz namens Edelweiss, ein paar Hundert Meter weiter gibt es einen Supermarkt, in dem der Trupp ein Picknick einkauft. Da kommt Esther aus Chemnitz angeradelt. Sie folgt der Donau, vorne auf ihrem Lastenvelo döst die Hündin Gloria. Die Begegnung und das Fachsimpeln tun gut, denn auf den zwölf Etappen seit Budapest haben die Istanbulstürmer genau zwei andere Toureros getroffen. Am Abend gibt es ein kleines Fest an einem Kindertisch unter dem Apfelbaum. Sie überqueren die Donau und kommen in die bulgarische Stadt Ruse. Sie schauen sich die Landkarte an, und bald ist der Plan klar: Wenn sie auf der Europa-Autostrasse durch Bulgarien stracks nach Süden navigieren, erreichen sie im Nordosten Griechenlands das Thrakische Meer. 

Zwetschgen und Mirabellen 

Auch auf Bulgariens Strassen geht es rau zu und her. Um die Autofahrer zu disziplinieren, haben die Behörden auf der Strassenmitte einen Zaun mit dicken Drahtseilen montiert, es gibt keinen Pannenstreifen. Wenn ein Vierzigtönner überholt, wird es für Velofahrer eng und zugig. Das haben die drei Meerhungrigen bald begriffen, kämpfen sich über Ausweichrouten mit meist gutem Belag durch Hügel, Hügel und nochmals Hügel. Dazwischen liegen unter der Sonnenglut die riesigen Felder der landwirtschaftlichen Industrie. Sie durchqueren dichte, finstere Wälder, sind dankbar für ein paar Minuten Fahrt im Schatten. Sehr reich ist dieses Jahr, so viele Früchte hängen an den Bäumen, dass ihr Gewicht die Äste über der Strasse herunterzieht. Jeden Tag essen die Radler ein Kilo Zwetschgen und Mirabellen, erleben das Paradies. 

«Sie schauen sich die Landkarte an, und bald ist der Plan klar: Wenn sie auf der Europa-Autostrasse durch Bulgarien stracks nach Süden navigieren, erreichen sie im Nordosten Griechenlands das Thrakische Meer.»

Ruse und Veliko Tarnovo sind reiche, prächtige Städte, in denen die Radpilger den gebotenen Luxus geniessen, dann kommen sie nach Nova Zagora und Kărdžali, die viel ärmer sind, wo es schwierig wird, auch nur eine Kneipe, eine schlichte Unterkunft zu finden. Die letzten paar Stunden in Bulgarien sind nur noch auf der Hauptstrasse mit giftigem Verkehr zu bewältigen, der grandiose Aufstieg zum Grenzpass Makala will nicht enden, die Sacochen und die Hitze lasten schwer. Dann folgt die Belohnung auf der griechischen Südrampe, eine grosszügig angelegte Luxusstrasse hinunter nach Komotini, auf der die Fahrer mit fünfzig Sachen die Bremsen nicht ein einziges Mal betätigen. Über einen weiteren Pass gelangen sie nach Alexandroupolis, wo sie sich ins Thrakische Meer schmeissen.

Minarette und Gewitter

Die türkische Grenzstation ist eine gigantische, abweisende Festung, doch die freundlichen Grenzer loben das Tun der Radler und winken sie an der Autoschlange vorbei nach vorne. Sie erreichen Keșan, und das ist eine fürchterliche Stadt. Von den Minaretten plärren die Muezzins und, kruzitürken, es gibt nirgends ein Bier. Das unfreundliche Hotelpersonal gestattet nicht, dass die Gäste ihre Velos ins Innere des Hauses nehmen. Das Schönste an dem tristen Kaff ist das Gewitter am Abend. Die steilen Strassen werden Bäche, die Temperatur wird menschlich.

Eine Etappe weiter, in Şarköy, erreichen die Istanbul­fahrer das Marmarameer. An dessen Nordküste verläuft die Strasse bald am Ufer, windet sich dann über Klippen ins Landesinnere, taucht wieder ans Wasser. Der Belag ist sehr gut, der Verkehr spärlich. Auch auf dieser Wunderstrasse sind sie die einzigen Radler. In Büyükçekmeze beginnt eine luxuriöse Velopiste und führt über gut dreissig Kilometer nach Istanbul Sultanahmed. Sultanahmed? Genau dorthin pilgern die meisten Besucher, auch die aus Agasul.

Infos zur Tour

Kurzbeschreibung: Dem Pässereigen quer durch Österreich folgen in Ungarn und Rumänien Flachstücke mit Auto­lawinen und bissigen Hunden. Südlich der beiden rumänischen Gebirgsstrassen geht es über die Donau, durch Bulgarien nach Griechenland, ans Thrakische Meer, dann in die Türkei und am Marmarameer nach Istanbul. Velojournal war im Juli/August 2024 unterwegs. 

Strecke: Agasul (CH) – Wildhaus (1090 m ü.M.) – Feldkirch (A) – Furkajoch (1760) – Au – Hochtannbergpass (1679) – Elmen – Hahntennjoch (1903) – Innsbruck – Jenbach – Zillertaler Höhenstrasse (2011) – Zell am Ziller – Gerlospass (1507) – Mittersill – Pass Thurn (1273) – St. Johann in Tirol – Fieberbrunn – Pass Griessen (1000) – Saalfelden – Dientner Sattel (1357) – Bischofshofen – Radstatt – Stein an der Enns – Sölkpass (1790) – Judenburg – Gaberlsattel (1543) – Graz – Szentgotthard (H) – Zalaegerszeg – Balatonfüred – Budapest – Dunaföldvár – Szeged – Arad (RO) – Sebeș – Transsilvanische Alpenstrasse Transalpina DN 67C – Pasul Tărtărău (1678) – Pasul Urdele (2145) – Râmnicu Vâlcea – Sibiu Hermannstadt  – Cârțișoara  – Hochstrasse Transfăgărășan DN 7C – Pasul Paltinu (2042) – Pitești – Turnu Mâgurele – Giurgiu – Ruse (BG) – Veliko Tarnovo – Pass Prohod na Republikata (700) – Nova Zagora – Kărdžali  – Pass Makaza (468) – Komotini (GR) – Alexandroupolis – Keșan (TR) – Şarköy – Tekirdağ – Istanbul.

Distanz und Höhenmeter: Über 3442 Kilometer erfreuen 30 344 Meter himmelwärts. 

Logis und Verpflegung: Viele Herbergen bis Ungarn, danach ist das Zelt nützlich. Einen Laden findet man in jedem Dorf.

Rückreise: Nachtzüge Istanbul—Bukarest und Bukarest—Wien, ohne Anschluss, also Übernachtung in Bukarest. Wien—Schweiz am Tag. Schikanöse Grenzkontrollen. Mit dem Velotransport im Sack, d.h. im Liegewagenabteil, kostet die Reise um die 800 Franken pro Person und geht zum Beispiel so: Istanbul ab Montag 20 Uhr, Bern an Donnerstag 24 Uhr. 

Dokumentation: Autoatlas Europa 1:800 000 von Freytag & Berndt, Fr. 19.40.

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