Maxence Menétrey, Jelena Wohlwend, Alexander Miessen (Text und Fotos)
Reisen,
12.11.2024
Rund um Sizilien und das italienische Festland von Süden hinauf bis Zürich – und das alles auf einem Tandem. Eine abenteuerliche Reise mit Fahrerwechseln.
Maxence Menétrey, Jelena Wohlwend, Alexander Miessen (Text und Fotos)
Reisen,
12.11.2024
Idyllisch: Die Abfahrt durch die Rheinschlucht.
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Alles begann mit einem Blick auf die Europakarte. Wir, Maxence und Jelena, ein Paar und leidenschaftliche Tandemfahrende, standen vor der Planung unserer nächsten Tour. Nach mehreren kürzeren Ausflügen wollten wir uns nun an eine längere Strecke wagen. «Und was wäre mit einer Rundfahrt um Sizilien!?» Im März soll es da bereits angenehm warm sein, und die Insel ist ab Genua mit der Fähre erreichbar – perfekt für den Transport des Tandems, der mit Zug oder Bus meist nicht möglich ist.
Den Rückweg könnte man ja über das Festland mit dem Velo zurücklegen. Einziges Problem: Jelenas Ferien sind auf vier Wochen begrenzt. Zu wenig Zeit für eine Sizilien-Rundfahrt und den Rückweg über das italienische Festland. Was tun? Die Lösung fand sich in Alex, unserem ebenfalls velobegeisterten Mitbewohner. Trotz wenig Tandem-Erfahrung war er sofort bereit, das Tandem gemeinsam mit Maxence über das italienische Festland zurück nach Zürich zu fahren. So war ein grober Plan geschmiedet.
Mit wenig Gepäck verreist, dafür mit umso mehr Erinnerungen zurückgekehrt.
Mitte März brechen wir in Bellinzona zu unserer Reise auf. Die Sonne dringt durch die mit Marktständen bepackten Gassen, und der Duft von frischem Kaffee verheisst unser Ziel: Bella Italia. Der erste Abschnitt führt nach Genua. Die schmale Strasse, eingeklemmt zwischen Bergen und dem Lago Maggiore, bringt uns in die Poebene.
Eine Region, berüchtigt für Industrie, viel Verkehr und schlechte Luft. Doch wir folgen dem Ticino, einem Nebenfluss des Po, und merken nur wenig davon. Auf dem Waldweg den Fluss entlang sind nur rauschendes Wasser und Vogelgezwitscher zu hören. Nach vier Tagen erreichen wir Genua, von wo aus uns die Fähre nach Palermo bringt. Bald verschwinden die Lichter der Hafenstadt am Horizont, wir stossen mit einem Aperol Spritz auf die bereits zurückgelegten Kilometer an.
Nach rund zwanzig Stunden Überfahrt erreichen wir Palermo, das kulturelle Zentrum Siziliens. Dort legen wir eine zweitägige Velopause ein. Wir geniessen Caponata, eine sizilianische Spezialität aus Auberginen, und besuchen historische Sehenswürdigkeiten. Erholt starten wir unsere Rundfahrt um die Insel. Wenig befahrene Strassen führen uns durch bergige Landschaften nach Segesta, einer ikonischen archäologischen Stätte mit einem gut erhaltenen Tempel. Wir erreichen ihn am späten Nachmittag, als die meisten Touristenbusse schon wieder die Heimreise angetreten haben, und bestaunen im Abendlicht die Überreste aus griechischer Zeit.
Unsere Rundtour führt weiter nach Erice. Der Blick von der auf einem Hochplateau gebauten Stadt soll einzigartig sein. Um diese Aussicht von oben zu geniessen, müssen wir zunächst aber eine herausfordernde Strecke überwinden. Der steile Aufstieg mit zahlreichen Serpentinen über etwa 700 Höhenmeter verlangt uns einiges ab. Doch die Mühe lohnt sich: Oben angekommen, werden wir mit einem atemberaubenden Blick auf das westliche Ufer Siziliens belohnt. Wir setzen unsere Reise fort, besuchen die Salinen in Marsala, schauen uns die Mosaike in der Villa Romana del Casale an und bewundern sizilianische Keramiken in Caltagirone.
Abendlicht fällt auf die Höhlensiedlungen Materas, einer der ältesten Städte der Welt.
Eine Tandemreise ist anders als eine Reise mit herkömmlichen Velos. Das Besondere ist, dass die beiden Fahrenden durch eine Kette verbunden sind. Sie gehen nicht auseinander und fahren immer gemeinsam. Zum Tandemfahren gehört aber auch eine gewisse Rollenverteilung. So fällt der vorderen Person das Lenken, Bremsen, Schalten und – ganz wichtig in Italien – das Ausweichen bei Schlaglöchern zu. Wer hinten sitzt, kümmert sich unterdessen um die Navigation, dokumentiert die Reise, bestaunt die Landschaft und – ganz wichtig in Italien – spürt die nächsten Cafés und Gelaterias auf. Am schönsten ist jedoch, dass man durch die Fahrt auf dem Tandem vielen Menschen unterwegs ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Zu zweit auf zwei Rädern, das fällt schon auf, und nicht selten wird einem freudig zugerufen oder herzlich zugewinkt.
«Zu zweit auf zwei Rädern, das fällt schon auf – nicht selten wird einem freudig zugerufen oder herzlich zugewinkt.»
Der letzte Abschnitt unserer Reise auf Sizilien führt zum Ätna, Italiens höchster Erhebung ausserhalb der Alpen. Der Vulkan bestimmt nicht nur das Landschaftsbild der Region Catania, sondern prägte auch die dortige Kultur. So diente beispielsweise die erstarrte schwarze Lava in Catania als Baumaterial und verlieh der Stadt ihren einzigartigen Charakter. Die Lavaströme haben einen fruchtbaren Boden geschaffen, der den Anbau von Pistazien ermöglicht und die Region international bekannt machte. Doch mit der Zerstörung eines Skigebietes am Vulkan im Jahr 2001 erinnerte man sich auch an dessen gewaltige Kraft. «Er zerstört ebenso viel, wie er uns Leben schenkt», sagt unsere Gastgeberin in Bronte am Hang des Vulkans.
Nach einem Aufstieg zwischen Pistazienbäumen dürfen wir Zuschauer eines einzigartigen Spektakels werden: Der Ätna spuckt Rauchringe!Nach 21 Tagen Rundfahrt erreichen wir Messina, von wo aus wir mit der Fähre zum Festland übersetzen. Im Hafen von Villa San Giovanni erwartet uns Alex. Für Jelena heisst es Abschied nehmen. Sie wird mit dem Zug zurück in die Schweiz reisen. Während der folgenden vier Wochen fahren wir – nun Maxence und Alex – das Tandem von Kalabrien zurück in die Schweiz.
Leider weder Winterreifen noch passende Kleidung im Gepäck.
Für unseren Weg gen Norden haben wir im Voraus keine Route festgelegt. Als Fixpunkte sind lediglich Matera und Siena definiert. Stattdessen planen wir von Tag zu Tag. So können wir uns nach dem Wetter und unserer Laune richten.Letztlich eine gute Entscheidung. Denn die ersten zwei Wochen unserer Tandemfahrt schlägt uns kaltes, wechselhaftes Wetter entgegen. Die Küste verlassen wir bereits am ersten Tag und bleiben während der kommenden vier Wochen im Landesinneren.
Durch das kalabrische Inland führt die wunderschöne und ruhige Veloroute Ciclovia dei Parchi della Calabria. Ein ständiges Auf und Ab zwischen Wäldern und Meer, wir fahren lange Etappen, unsere Motivation ist hoch. Kalabrien ist ein immerwährender Kontrast zwischen Herzlichkeit, Einsamkeit und dem Glanz vergangener Tage. Das Regenwetter in der ersten Woche durchkreuzt unsere Pläne und zwingt uns zweimal zu einem Pausentag.
Als die Sonne wieder scheint, werden unsere Beine unruhig. So erklimmen wir die Passstrasse am Monte Pollino guter Dinge und bei schönstem Wetter. Oben angelangt, wird der Himmel plötzlich grau, es wird windig und immer kälter. Die Temperatur kommt der Nullgradgrenze gefährlich nahe, Schneeflocken stechen unsere nackten Waden. Die Strasse wird immer verschneiter und vereister, sodass wir irgendwann vom Tandem steigen und laufen müssen. Unsere Kleidung ist für den kalabrischen Frühling ausgelegt, nicht für 2 Grad Celsius und Schnee.
Also fangen wir an zu joggen, um uns warm zu halten. Trotz klappernder Zähne müssen wir lachen – die Situation ist ebenso unangenehm wie absurd. Wer hätte Ende April in Kalabrien mit Schnee gerechnet? Nach ein paar Kilometern sind wir aus dem Gröbsten hinaus und können weiterfahren. Auf der anderen Seite des Passes empfängt uns die Region Basilicata mit Sonne und dramatischer Schönheit. Die Passstrasse führt hinab entlang einem Bergkamm mit friedlich grasenden Wildpferden. War der bitterkalte Monte Pollino nur ein Albtraum?
Insgesamt überqueren wir den Apennin, die zentrale Bergkette, die sich von Nord nach Süd durch Italien zieht, dreimal und verbringen die meiste Zeit abseits von Städten. Nach Kalabrien bleiben wir zunächst östlich der Bergkette. Tage wie in einem Traum. Die sandigzerfurchte Landschaft der Basilicata mit einem Dorf wie aus einem James-Bond-Film auf jedem Hügel. Die saftig-grünen Hügel Apuliens, Felder und Windräder, so weit das Auge reicht. Unvergesslich auch der feuchtfröhliche Abend mit Diego di California, einem Wirt in einem verschlafenen Dorf westlich von Matera. Wir singen und essen bis spät in die Nacht wie mit alten Freunden. Selten haben wir uns so herzlich willkommen gefühlt.
Bei LʼAquila in den Abruzzen kreuzen wir den Apennin zum zweiten Mal. Traumhafte, einsame Bergstrassen und wieder Schnee auf den Gipfeln. Zum Glück jedoch diesmal nur in der Ferne. Hier wird nach zwei Wochen mit Armlingen und Beinlingen auch erstmals das Wetter sommerlich.
«Melancholie und Vorfreude vermischen sich, denn der nächste Tag wird das kleine Finale unserer Traverse durch Italien markieren.»
Unsere Erwartungen an die andere Seite der Bergkette, an Lazio, Umbrien und vor allem an die Toscana, sind hoch. Besonders von Umbrien sind wir angetan. Schön wie die Toscana und ein wenig ruhiger. Doch nach unserem zweiwöchigen Tagtraum im Süden sehen wir im Norden vor allem Kontraste. Auf der einen Seite der Süden Italiens mit seiner Authentizität, seiner einsamen Schönheit, seinem ungepflegten Charme. Im Gegensatz dazu der Norden mit seinen herausgeputzten Städten, atemberaubend inszenierter Geschichte, aber auch mit viel Verkehr und Tourismus.
Die Karfreitagsprozession in Enna mit 2500 Kapuzenträgern ist ein Spektakel.
An Florenz vorbei geht es Richtung Bologna, ein drittes und letztes Mal durch den Apennin. Über die anschliessende Durchquerung der Poebene gibt es wenig zu erzählen. Erschöpft von einer Erkältung (Alex) und gelangweilt von der Ödnis der Ebene (beide), erreichen wir zunächst Brescia, ein kleines Juwel, und nach drei Tagen erleichtert Bergamo.
Melancholie und Vorfreude vermischen sich, denn der nächste Tag wird das kleine Finale unserer Traverse durch Italien markieren. Durch die italienischen Alpen und über den Lago di Como geht es zurück in die Schweiz. Schliesslich erreichen wir Bellinzona. Hier beginnt der letzte Teil unserer Reise nach Zürich – die Alpenüberquerung, zusammen mit Jelena und Aline, einer weiteren Mitbewohnerin.
Die beiden treffen spät in der Nacht und mit einem zweiten Tandem im Gepäck in Bellinzona ein. Endlich wieder vereint, gibt es trotz später Stunde viel zu erzählen: die atemberaubende Schönheit des Südens, das Abendessen mit Diego di California, Picknicks mit Mozzarella-Orgien und Reifenpannen.
Am nächsten Morgen geht es nach einem Caffè und Gipfeli los: Jelena und Maxence auf ihrem, Aline und Alex auf dem zweiten Tandem. Begleitet von bestem Wetter überqueren wir den Lukmanierpass – an sich schon eine Herausforderung mit seinen knapp 1700 Höhenmetern, und das noch mit Tandem und Gepäck. Nach diesem langen Anstieg fühlt sich die Fahrt durch die Rheinschlucht fast wie Fliegen an. Mit einem Abstecher nach Liechtenstein und einem herrlich sommerlichen Tag im Toggenburg erreichen wir schliesslich Zürich.
Kaum am Ziel angekommen, ist unsere Sehnsucht nach Italien bereits wieder gross. «Wämmer ufem Heiweg no a de Gelateria verbii?» So endet unser Giro d’Italia mit einem Gelato in Zürich.
Kurzbeschreibung: Von Bellinzona durch die Poebene nach Genua. Von dort fährt die Fähre in 20 Stunden nach Palermo. Dann im Gegenuhrzeigersinn durch die wichtigsten Städte und archäologischen Zentren Siziliens.
Von Messina kreuzt eine Fähre in 20 Minuten die Strasse von Messina zum Festland. Von dort im Inland über Cosenza und Castrovillari nach Matera. Weiter bis Siena, von dort nach Bergamo. Von Verano kreuzt eine Fähre den Lago di Como nach Menaggio. Schliesslich von Bellinzona über Disentis nach Zürich.
Planung: Die Route wurde mit Strava und Google Street View geplant. In Kalabrien und der Poebene führt sie teilweise entlang der EuroVelo 7. Diese Abschnitte haben wenig bis keinen motorisierten Verkehr, guten Belag und sind gut beschildert.
Verpflegung: In Supermärkten findet man alles für ein perfektes Picknick.
Verkehrmittel: Tandem-Versand mit den SBB von Zürich nach Bellinzona. Fähren: Genua—Palermo, Strasse von Messina, Lago di Como.
Hinweis: Das Tandem darf nicht überall im Zug transportiert werden. Die SBB bieten den Transport von Tandems in zwei Tagen von einem Bahnhof zum anderen an.
Reisedauer: 56 Tage
Distanz / Höhendifferenz / Sattelzeit:
3600 km / 45 000 hm / 152 h
Übernachtungstipps:
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