«Weil es möglich ist»

Passionierter Velofahrer, Nerd und Rahmenbauer: Stefan Süess hat sich dem Zweirad verschrieben und baut Titanrahmen in Handarbeit. Beim Besuch in seiner Werkstatt zeigt er «seine kleinen Freuden».

Aline Kuenzler, Autorin (aline.kuenzler@velogisch.ch)
Szene, 17.09.2025

Ein 3-D-gedruckter Wildschweinkopf aus Edelstahl prangt am Steuerrohr der Süess-Rahmen. Der Zürcher Rahmenbauer Stefan Süess braucht keinen anderen Grund für die aufwendige Verzierung, die seine Velos schmückt, als: «Weil es möglich ist.» 

Der sogenannte Headbadge ist kein funktionales Bauteil, sondern eine seiner «kleinen Freuden». Ein Markenzeichen, das er seinen handgefertigten Rahmen ebenso selbstverständlich mitgibt wie die präzise, massgeschneiderte Geometrie. Süess fertigt in Handarbeit und auf Kundenwunsch Velorahmen aus Titanrohren. 

Jedes seiner Werke ist ein Einzelstück und wird zusammen mit der Kundin konfiguriert und auf deren Körperproportionen angepasst. Die Rohre und Anbauteile – etwa Ausfallenden oder Kabelführungen – kauft Süess zu. Den Rest erledigt er selbst, mit Erfahrung, Präzision und einer grossen Portion Leidenschaft.

Faszination Titan

Damit ist Süess «in der Nische der Nische tätig», wie er erklärt. Die wenigsten Velofahrer sitzen auf einem massgeschneiderten Zweirad, und kaum einer von ihnen wagt überhaupt, vom Rahmen aus Titanlegierung zu träumen. 

Der aufwendig zu gewinnende Werkstoff ist robust, korrosionsbeständig und flexibel zugleich. «Leichter als Stahl und dämpfender als Aluminium», beschreibt Süess den Titanrahmen. Das Material wie auch die konifizierten Rohre, die an den Enden dickwandiger sind als in ihrer Mitte, nehmen Vibrationen besonders gut auf und verleihen dem Titanvelo ein einzigartiges Fahrgefühl. 

Für den Rahmenbauer bedeutet das spezielle Material aber erst einmal Mehraufwand für seine Arbeit. Titan muss unter komplettem Ausschluss von Sauerstoff und unter äusserst sauberen Bedingungen geschweisst werden.

Handwerk, das keine Fehler verzeiht

Nicht nur seine Werkstatt putzt Süess vor jedem Schweissvorgang daher akribisch, sondern er reinigt auch sämtliche Kleinteile im Ultraschallbecken. Die Titanrohre selbst werden mithilfe eines Schutzgases vor Sauerstoffkontakt geschützt. 

Dieses Gas strömt durch einen dünnen Schlauch ins Innere des Rahmens und wird über Düsen im Brennerkopf direkt an den Schweisspunkt aussen am Rahmen geleitet. Beim Schweissen selbst hat Süess eine einzige Chance. Die Winkel der Frässtellen müssen so exakt sein, dass die Rohre nahtlos aufeinander passen und ohne Verzug geschweisst werden können. 

Durch kleinste Ungenauigkeiten werde ein Rahmen unbenutzbar, erklärt Süess. Ist etwa das Hinterrad nicht mittig und gerade eingebaut, kann dies beim wenig biegbaren Titanrahmen kaum korrigiert werden. Als einfachere Alternative könnte der Rahmenbauer Ausfallenden mit einem Verschiebebereich für die Hinterachse verbauen. Süess entschied sich bewusst für die anspruchsvollere Variante ohne Verstellbereich. 

Das findet er nicht nur schöner, sondern es spornt ihn zusätzlich an, hochpräzise zu arbeiten. Baut er das Hinterrad ein, sieht er sofort, ob er tatsächlich exakt gearbeitet hat. Eine weitere seiner «kleinen Freuden», die er umsetzt, «weil es möglich ist».

Von der Not zur Tugend

Als Rahmenbauer gibt es keinen Berufsabschluss, jedoch vermehrt Kurse bei erfahrenen Fachpersonen. Einen solchen Kurs besuchte Süess, nachdem er sich eigentlich ein Stahl-Mountainbike hatte anschaffen wollen, aber nicht fündig wurde. Also hat er sich für die Marke Eigenbau entschieden und seinen ersten Rahmen konstruiert. Sein zweites Werk hat er für seine Frau geschweisst, weitere Rahmen bald auch für sein Umfeld. Vor drei Jahren hat er seine Arbeit als Berufsschullehrer an den Nagel gehängt und widmet sich seitdem ganz dem Titanrahmenbau.

Seine Kunden sind Viel- und Langstreckenfahrende, die sich «einen Rahmen fürs Leben» bauen lassen. Auch der Rahmenbauer erfindet dabei aber das Rad nicht immer neu, wie er beschwichtigt. Abhängig von der Erfahrung der Kundin hilft er mehr oder weniger mit «beim Übersetzen der Bedürfnisse in Winkel und Geometrien». Falls bereits ein passender Rahmen vorhanden ist, baut er gerne auf dessen Form auf, um die optimalen Proportionen für das neue Einzelstück zu errechnen. Jeder Rahmen wird so «massgeschneidert, nicht angepasst», wie Süess betont. Ganz günstig ist das Endprodukt daher nicht: 3500 Franken kostet der Rahmen aus der Süess-Werkstatt samt Carbongabel. Das grosse Geld verdient der Handwerker damit nicht. Er baut Rahmen aus Leidenschaft – und weil er «unglaublich gern in der Werkstatt zu einer guten Playlist umechlütteret».

Zwischen High End und Schrott

Der rockige Sound erfüllt tatsächlich die kleine, aber feine Werkstatt in einem gemütlichen Garten in Zürich Altstetten. «Umechlüttere» ist aber kaum der richtige Begriff für die hochpräzise Handarbeit von Süess. Schliesslich ist der Zürcher nicht nur erfahrener Rahmenbauer, sondern auch «Velo-Nerd», wie er selbst sagt. Er interessiert sich nicht nur für den Rahmen des Zweirads, sondern auch für Entwicklungen in der Velotechnik und kleine Details seiner Werkstücke. Spätestens, als er von den 1,2-Millimeter-Schrauben erzählt, mit denen der Headbadge am Steuerrohr befestigt wird, glaubt man ihm. Derzeit beschäftigt er sich mit dem Verfahren des 3-D-Drucks. Erste Ausfallenden hat er bereits mit diesem Verfahren herstellen lassen, wodurch er auch diese Titanteile nach eigenem Design gestalten kann. Wo immer möglich, beschafft er solche Einzelteile, wie auch das Rohmaterial, in Europa. Dies erfordert oft Mehraufwand und höhere Investitionen, was sich aber bei seinen Einzelstücken zu lohnen scheint.

Eine etwas eingehendere Beschäftigung mit dem Velo vor einer Neuanschaffung wünscht sich Süess auch von anderen Velofahrenden. «Die Bandbreite zwischen High End und Schrott ist riesig», meint der Rahmenbauer. Nicht nur beim Velokauf, sondern allgemein bei Konsumentscheiden hofft er auf mehr Zeit für den Kaufentscheid und die Auseinandersetzung mit dem Produkt.

Der ruhige Wilde

Wer bei Stefan Süess einen Rahmen kauft, bekommt ein Stück Charakter auf zwei Rädern – mit einer Wildsau vorneweg. Wie es zur Wildsau kam, ist simpel: «Ich wollte ein wildes Vieh», erzählt der Rahmenbauer mit einem Lachen, das verrät, dass er es ernst meint – und gleichzeitig Spass daran hat. Wild wirkt er trotzdem nicht. Eher wie ein ruhiger, genauer Handwerker, der es mag, wenn die Dinge passen. Aber unter der gutmütigen Oberfläche schlägt das Herz eines passionierten – und auf diese Weise vielleicht doch etwas wilden – Velofahrers.

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