Schöne, neue, vernetzte Welt

Der digitale Assistent in der Westentasche erleichtert das Leben. Unter­haltung, Informationen, Dienstleistungen – das Smartphone ist die perfekte Schnittstelle. Oder doch nicht?

Laurens van Rooijen, Autor

Laurens van Rooijen, Autor (lvr@cyclinfo.ch)
Kommentar, 29.04.2021

Draussen bricht zaghaft die Dämmerung an, aber im Velokeller eines Einfamilienhaus-Neubaus irgendwo im Agglomerationsgürtel einer grossen Stadt leuchtet der Touchscreen eines Smartphones auf. Kurz darauf tut es ihm das kleine Display gleich, das im Oberrohr des Velorahmens eingelassen ist. Viktor nickt zufrieden, während er sich über den Ladestand des Akkus, die Anzahl der in dieser Woche bereits per E-Bike zurückgelegten Kilometer, die dabei verbrannte Menge Kalorien und die so gesparte Menge an Kohlendioxid sowie das für heute zu erwartende Wetter informieren lässt. Ein kurzer Druck auf das Display, und das E-Bike ist entriegelt.

Nie mehr Schlüssel, die man(n) sowieso zu oft verlegt, freut sich Viktor über diese Errungenschaft der Digitalisierung. Die Erinnerung vom mit dem E-Bike allzeit vernetzten, smarten Kühlschrank, wonach die Milch alle ist und auch die Eier bald zur Neige gehen dürften, verlegt er vor der Abfahrt auf den frühen Abend. Dann, wenn Viktor sein E-Bike wieder für den Heimweg aktivieren und auf selbigem an einigen Geschäften vorbeiflitzen wird. Auf dem Weg zur Arbeit hört er schon einmal in die Schlagzeilen des Tages hinein, wobei sein E-Bike das digitale Radiosignal empfängt und per Bluetooth an seine drahtlosen Kopfhörer sendet.

Total digital ...

Die aufgeweckte Stimme der Moderatorin wird immer wieder unterbrochen – von einer deutlich monotoneren Stimme, welche die nächste Kreuzung ankündigt, die neusten Aktionen von Läden an der Route anpreist oder vor besonders tiefen Schlaglöchern warnt. So entgeht Viktor nichts, aber auch wirklich nichts auf dem Weg zur Arbeit. Und damit dies auch all seine Arbeits- und Vereinskollegen wissen, macht der tapfere E-Bike-Pendler auf halbem Weg noch ein Selfie und stellt es gleich auf Instagram, versehen mit einem Spruch: «Be the change you want to see in the world.»

«Du, hetsch mer äs USB-Kabel?»

Am Arbeitsplatz angekommen, stellt Viktor sein E-Bike in die von Videokameras überwachte Velo-Garage. Kurz die App und dann die Wegfahrsperre aktiviert, und weiter geht es zur Garderobe und unter die Dusche. Dank Spotify muss Viktor beim Duschen nicht auf seine liebsten Melodien verzichten, und als echter Digital Native nutzt er sein Smartphone in der Folge jede Viertelstunde – um einen Tisch fürs Mittagessen zu reservieren, sich auf verschiedenen sozialen Netzwerken mit Bekannten auszutauschen oder den Inhalt seines Kühlschranks und den Ladezustand des E-Bike-Akkus zu kontrollieren.

... bis zum bitteren ende

Nach einem langen Tag mit vielen Blicken auf sein Smartphone verlässt Viktor seinen Schreibtisch, tauscht das Bürotenue gegen praktische Funktionskleidung und macht sich auf zur Velogarage. Doch die voll verknüpfte Routine wird jäh gestört: Viktors Handyakku ist leer. Und darum lässt sich die Wegfahrsperre seines E-Bikes nicht deaktivieren. Kein Problem, denkt sich Viktor: Dann häng ich das Handy eben schnell an den Akku des E-Bikes an, mit dem – oh nein, wo ist nur dieses verflixte USB-Kabel hin? Es wurde ein langer Abend für Viktor, an dem er immer wieder und mit steigender Verzweiflung wildfremde Passanten ansprach: «Du, hetsch mer äs USB-Kabel?»

«Viktor begann zu hinterfragen, ob wirklich alles miteinander verbunden und das Smartphone dabei eine solch zentrale Funktion in seinem Leben einnehmen sollte.»

Während er sich mit einer weiteren abschlägigen Antwort abzufinden suchte, begann Viktor zu hinterfragen, ob wirklich alles miteinander verbunden und das Smartphone dabei eine solch zentrale Funktion in seinem Leben einnehmen sollte. Schliesslich könnte die Sache mit dem Velofahren so einfach sein: ein rein mechanisches Gefährt, seit über hundert Jahren bewährt und so simpel, dass die meisten Reparaturen auch ohne professionelle Hilfe machbar sind – wortwörtlich begreifbar. Und ein Mensch, der in die Pedale tritt. Das dachte sich Viktor, während er missmutig mit der S-Bahn in die Agglomeration zurückfuhr – und dabei gelangweilt in einer Gratiszeitung blätterte, weil sich der Unterhaltungswert seines Smartphones bei leerem Akku als ebenso bescheiden erwies wie sein Nutzen als Schlüssel fürs E-Bike.