Reisen ohne schlechtes Gewissen

Noch nie wurde so viel gereist, nie war Reisen billiger. Letztes Jahr waren 1,3 Milliarden Menschen unterwegs. Was heisst das für den Velotourismus?

no-image

Pete Mijnssen
30.01.2019

«Overtourism» ist in aller Munde. Das Schlagwort beschreibt die Auswüchse der globalen Reisetätigkeit: Ein Wochenende Shopping in New York, ein Trip nach Barcelona oder Tauchferien auf den Malediven – letztes Jahr waren 1,3 Milliarden weltweit unterwegs, oft per Flugzeug. Noch nie wurde so viel gereist, noch nie war Reisen billiger. Dies führt zu viel Kritik, aus ökologischer Warte, aber auch von den betroffenen Orten. So gehen etwa die Einwohner von Florenz und Venedig auf die Barrikaden, da ihre Städte an den Menschenmassen zu ersticken drohen.

Veloreisende erscheinen auf den ersten Blick als unverdächtige Touristen. Sie reisen oft nachhaltig und bestimmen ihr eigenes Tempo. Doch auch für sie stellt sich die Frage, wie sie an ihre Sehnsuchtsorte kommen. Das Veloabenteuer kann direkt vor der Haustüre beginnen, auch das ein schöner Zug der Velomobilität: Packtaschen füllen und los! Vielleicht lockt eine Mehrtagestour mit Zug und Bus? Zum Glück gibt es in der Schweiz dafür viele Transportmöglichkeiten. Ganz abgesehen von der touristischen Infrastruktur, die von Campingplätzen über Hotels bis zum bequemen Gepäcktransport vieles bietet.

Wer ins Ausland will, muss schon genauer planen. Die Transportbestimmungen der europäischen Bahnunternehmen werden immer wieder angepasst: mal sind sie velofreundlicher, mal weniger. Es empfiehlt sich, die Bestimmungen vor Reiseantritt genau zu studieren. In den letzten Jahren sind die Bahnunternehmen dazu übergegangen, den Velotransport auf Schnellstrecken einzuschränken und dafür auf Regionallinien Velostellplätze bereitzustellen. Das ist zwar komfortabel, aber wegen möglichen Umsteigens auch zeitraubend, vor allem wenn noch Perrons gewechselt und wegen Verspätungen Züge verpasst werden (was leicht passieren kann). Je unbekannter und weniger frequentiert die Zielorte sind, desto mehr Zeit muss eingerechnet werden.

Alternativen zum Flugzeug

Fluggesellschaften bieten oft einen komfortableren Velotransport – mitunter so einfach, dass man sogar in SBB-Reisebüros bei komplizierteren Anfragen zu europäischen Verbindungen auf die Flugkonkurrenz verwiesen wird. Dennoch lohnt es sich, gerade aus ökologischen Gründen, die Bahnunternehmen herauszufordern und politische Vorstösse zu unterstützen.

Eben haben die Grünliberalen eine Petition gestartet für die Wiedereinführung der Nachtzüge, welche die SBB 2009 eingestellt haben. Für Tobias Vögeli, Co-Präsident der Jungen Grünliberalen, ist das unhaltbar: «Die Schweizer sind Weltmeister im Fliegen. 18 Prozent aller Treibhausgas-Emissionen in der Schweiz werden von der Luftfahrt verursacht.» Damit die Schweiz die Klimaziele erreiche, brauche es Alternativen zum Fliegen.

Damit verschweigt er, dass gerade der Flugverkehr von den Klimazielen ausgenommen ist. Unter anderem darum mussten die Bahnen im Preiskampf ihre Nachtzüge aufgeben. Nur die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) bieten von der Schweiz aus direkte Verbindungen im Nightjet oder im Euronight an, nach Hamburg, Berlin, Wien, Graz, Prag, Zagreb und Budapest. Nachdem das Nachtzugangebot jahrelang von SBB und der Deutschen Bahn klein- und schlechtgeredet worden ist, betreiben die ÖBB ihre Nightjets vom ersten Jahr an kostendeckend und mit Erfolg. Letztes Jahr waren es 1,6 Millionen Passagiere, 200'000 mehr als im Vorjahr.

Innovation ist gefragt

Das Beispiel zeigt, dass mit Innovation Totgeglaubte wiederauferstehen können. Eine zurzeit diskutierte obligatorische Abgabe auf Flugtickets würde zumindest für annähernd gleich lange Spiesse unter den Transportunternehmen sorgen. Vor ein paar Jahren war man im europäischen Parlament bezüglich grenzüberschreitender Velomitnahmeverpflichtungen nahe am Ziel. Dann aber fiel dies unter dem Zwang der «Marktliberalisierung» unter den Tisch. Die Folgen davon sieht man bei den schon fast unverschämt billigen Flugangeboten und einem ruinösen Wettbewerb. Und am Beispiel Overtourism.

Vielleicht kommt man unter dem Eindruck der verschärften klimapolitischen Diskussionen nun einen Schritt weiter. Damit – zumindest in Europa – niemand mehr einen Grund hat, seine Veloferien nicht mit dem Zug anzutreten.

Empfohlene Artikel