Kultur der Pässe

Alpenpässe sind wirtschaftlich wichtig, und wenn man ihre Geschichte anschaut, stösst man auf Überraschendes in Sachen Mobilität und Lebensweisen.

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Dres Balmer
16.09.2020

Über die und unten durch die Alpenpässe werden seit Jahrhunderten Handelswaren hin- und hertransportiert, sie sind wichtige Schleusen in der Wirtschaft der Länder. Ein Pass ist aber nicht bloss Handelsweg, er ist auch die Verbindung zwischen Tälern, Kantonen, Ländern, verschiedenen Sprachen, Lebensweisen und Kulturen. Also ist der Pass auch ein Kulturgut.
Manche Strassenführungen, die heute dem motorisierten Verkehr standhalten, wurden im 19. Jahrhundert angelegt. Man nannte sie «Kunststrassen», weil sie als Fremdkörper in eine für den Strassenbau schwierige Landschaft gelegt wurden. Passstrassen sind nicht nur solides Handwerk, manche von ihnen sind auch schönste Landschaftskunst, ein ästhetisches Vergnügen beim Radeln.

Am San Bernardino, Gotthard und Gros­sen Sankt Bernhard ist es noch schöner, weil der Transitverkehr meist unten durch den Basistunnel rollt. Die Tunnel wurden für den motorisierten Verkehr gebaut, und sie eröffnen unserer zyklistischen Ergötzung neue Perspektiven. Es gibt in der Pässegeschichte auch andere auffällige Episoden, hier zwei Beispiele.

Beispiel eins, Graubünden: Um 1900 explodiert die automobile Revolution dermassen, dass sie das Transportgeschäft der Fuhrhalter mit ihren Kutschen an den Pässen gefährdet. Deshalb erlässt der Kanton Graubünden ein Motorfahrzeugverbot, das bis 1925 gilt; in diesem Jahr wird es von der Eidgenossenschaft gekippt.

Beispiel zwei, Österreich: Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg verliert die K-.u.-k.-Monarchie nicht nur ihren höchsten und ihren Nationalberg, den Ortler, sondern auch die höchste Kunststrasse der Alpen, die zum Stilfserjoch führt. Weil sich Österreich nun als Alpenrepublik definiert, wird der bisher zweithöchste Berg, der Grossglockner, zum Nationalberg erkoren, und es beginnt ein neues Kapitel in der grossen Geschichte der Pässe.

In den 30er-Jahren erschliessen die Österreicher nämlich das Grossglocknermassiv mit einer Hochalpenstrasse, die sie, mit zwei Passhöhen und zwei spektakulären Stichstrassen, so in die Landschaft legen, dass der Autofahrer ein grandioses Landschaftserlebnis geniessen kann. Das ist die Kunststrasse des 20.?Jahrhunderts schlechthin.
Die Grossglockner-Hochalpenstrasse wird zum nationalen Monument, zur Kultstätte des motorisierten Alpentourismus, und zwar konsequent: Am Ende der Stichstrasse zur Franz-Josefs-Höhe steht das höchstgelegene Automuseum der Welt. Die motorisierten Gäste zahlen eine Maut, in der die Besuche mehrerer Museen und Informationsräume inbegriffen sind. Die genial inszenierte Grossglockner-Hochalpenstrasse hat vielleicht eine neue Epoche eingeläutet. Wir sind gespannt auf die nächste.