Velojournal: Wie kam es zum Bundesbeschluss Velo, über den im September abgestimmt wird?
Aebischer: Die Veloinitiative hatte zum Ziel, das Velo in die Verfassung zu bringen. Und zwar in einem Artikel, in dem bereits die Fuss- und Wanderwegnetze drin sind. Die MussFormulierung wurde vom Bundesrat in seinem Gegenentwurf zu einer KannFormulierung abgeschwa?cht. Ich kann damit leben, denn in der Verfassung hat es sehr viele KannFormulierungen. Es sind ja Grundsätze, die in der Verfassung festgeschrieben sind. Der Gegenvorschlag fand im Gegensatz zur Initiative grosse Unterstützung im Parlament. Und deshalb kommt nun der Bundesbeschluss zur Abstimmung.
In der Vernehmlassung herrschte bei vielen Kantonsvertretern der Tenor: Wir sind zwar fürs Velo, wollen es aber nicht so fest in der Verfassung verankert haben.
Mazzone: Mit der KannFormulierung werden die Gewaltenteilung und die Aufgabenteilung zwischen Bund und Gemeinden respektiert. Der Bund stellt ein Minimum an Koordination sicher. Und die Kantone und Gemeinden kümmern sich um die Realisierung der Velowege. Die Erfahrung bei den Fuss und Wanderwegen zeigt, dass die Verfassung einen garantierten Standardrahmen vorgibt.
Der Bund hält also das föderalistische Prinzip hoch, will ein bisschen was für das Velo machen, die Verantwortung dafür aber weiterhin den Kantonen und Gemeinden überlassen?
Aebischer: Genau. Der Bundesbeschluss enthält gar den Zusatz, dass die Gemeinden und Kantone ver antwortlich sind. Deshalb unterstützen sie die jetzige Version. Der erste Gegenvorschlag des Bundes rates hatte diesen Zusatz nicht drin. Da waren dann viele Gemeinde und Kantonsvertreter dagegen. Jetzt ist dieser Zusatz drin. Nun ist es für die Gemein den und Kantone sogar noch klarer als im jetzigen Verfassungsartikel zu den Fuss und Wanderwegen.
Gemeinden und Kantone sind schon heute für das Velo zuständig. Was würde sich ändern?
Mazzone: Der Bund würde dann finanzielle Mittel für die Koordination und die Kommunikation bereitstellen. Der Verfassungseintrag ist ein Impuls an Kantone und Gemeinden. Eine Annahme des Bundesbeschlusses Velo durch das Volk wäre zu dem auch ein starkes Signal an Kantone, Gemeinden und nicht zuletzt an den Bund, bei der Veloförderung vorwärtszumachen.
Durch den Verfassungseintrag kommt die Veloförderung also ins Pflichtenheft der Gemeinden?
Aebischer: Ein Verfassungsartikel ist wie eine Offensive. Man kann die Dörfer in der ganzen Schweiz anschauen: Vor 40 Jahren haben sich alle nur gefragt: Wo fährt das Auto durch? Und Geschäftsinhaber in allen Orten haben gesagt, das Auto müsse mitten durchs Dorf fahren. Deshalb haben wir ganz viele verschandelte Dörfer. Das ist eine Katastrophe. Seit die Grundsätze zu den Fuss- und Wanderwegen in der Verfassung stehen, schaut jede Gemeinde in der Schweiz auch, wo die Leute durchlaufen. Und in Zukunft, wenn das Velo in der Verfassung ist, schaut man eben auch, wo die Velo fahrerinnen und Velofahrer radeln.
«Wenn das durchkommt, wirds gross.»
Matthias Aebischer
Das Auto stand ja auch nicht in der Verfassung und wurde trotzdem immer berücksichtigt ...
Aebischer: In der Verfassung ist immer vom Strassenverkehr die Rede. Und Strassenverkehr wurde früher eben immer mit dem Auto gleichgesetzt. Es kam niemandem in den Sinn, dass Verkehr auch Fussverkehr oder Veloverkehr sein könnte.
Mazzone: Und die Kompetenz des Bundes, was den Autoverkehr betrifft, ist absolut klar. Der Bund kümmert sich mit erheblichen finanziellen Mitteln um die Nationalstrassen. Die Veloausgaben sind im Vergleich dazu sehr bescheiden, selbst mit den Aggloprogrammen. Mit dem Bundesbeschluss Velo erhält das Fahrrad mehr Beachtung. Das ist wichtig für die Mobilität, weil sie künftig nicht mehr ein seitig vom Auto her gedacht wird.
Ist der Bundesbeschluss Velo also kein Verrat an der ursprünglichen Veloinitiative?
Aebischer: Im Gegenteil. Wenn das durchkommt, wird das gross.
Mazzone: Es ist ein Paradigmenwechsel in der Mo bilita?t. Die Veloinitiative wollte das Velo in die Verfassung bringen. Der Gegenvorschlag bringt das Velo ebenfalls in die Verfassung.
Aebischer: Es nützt dem Velo überhaupt nichts, wenn wir mit der Initiative an den Start gegangen wären und alles verloren hätten . In der Politik muss man immer schauen, was drin liegt. Wir brauchen eine Volksmehrheit. Für den Bundesbeschluss Velo können wir eine Mehrheit gewinnen, wenn wir jetzt weiterkämpfen und die Leute mobilisieren.
Im Vergleich etwa zur Konzernverantwortungs initiative, die gross diskutiert wurde, schien bei der Veloinitiative alles im Hintergrund zu laufen. War das Bundeshausdiplomatie?
Mazzone: Zwischen den zwei Initiativen gibt es grosse Unterschiede. Der erste ist, dass die Eidgenossenschaft erkannt hat, dass bei der Velofärderung ein Manko besteht. Bei der Konzernverantwortungsinitiative ist das leider bisjetzt nicht der Fall. Der Bundesrat hat hier keinen Gegenvorschlag erarbeitet.
Aebischer: Wir müssen das CO2 reduzieren, es gibt Gesundheitso ensiven vom Bundesamt für Gesundheit. Und das Velo passt perfekt in diese Strategien. Die Zeit ist reif für das Velo.
Wir haben ja 25 Jahre darauf gewartet, dass das Velo in die Verfassung kommt.
Aebischer: Man spürt auch bei den zuständigen Bundesräten Doris Leuthard und Alain Berset einen starken Willen dazu. Das Velo ist ein zentraler Punkt, damit sie ihre Klima und Gesundheitsziele erreichen können. Darum haben sie uns auch un terstützt.
Kann sich das Initiativkomitee überhaupt eine Abstimmungskampagne leisten?
Mazzone: Für den bevorstehenden Abstimmungskampf sind wir seit einem halben Jahr daran, Mittel zu suchen. Basis für eine erfolgreiche Kampagne ist eine breite Allianz. Diese haben wir. Aber klar: Wir müssen unsere Anstrengungen in den nächsten Wochen stark intensivieren. Die Zeit zwischen Juni und September wird entscheidend sein.
Neben politischen und individuellen Verbesserungen öffnet der Bundesbeschluss Velo ja auch den Markt und sichert etwa dem Velohandel die Zukunft. Wie will man hier das Bewusstsein schärfen?
Aebischer: Das Banalste ist immer am schwierigs ten zu erklären. Ein Beispiel dafür: Es gibt in der Schweiz am meisten Unfälle beim Treppensteigen. Und wenn man den Leuten sagt, ihr müsst das Licht einschalten, wenn ihr in den Keller geht, dann ist das so banal, dass alle denken: Ist ja klar. Dabei passieren Tausende von Unfällen, weil man das Licht nicht einschaltet, wenn man in den Keller geht. Und jetzt haben wir die Aufgabe, den Leuten bis am 23. September zu erklären: Velofahren ist gesund, trägt entscheidend zur CO2-Reduktion bei, entlastet die Strassen und den ÖV und kostet erst noch wenig Geld.
Wie will das Initiativkomitee die Automobilisten erreichen?
Mazzone: Wenn mehr Menschen Velo fahren, gibt es weniger Stau, was den Autos zugutekommt. Es geht darum, zu zeigen, dass alle vom Velo profitieren. Das hat zum Beispiel auch der TCS erkannt und unterstützt deshalb den Bundesbeschluss Velo. Wir müssen dem Velo ein positives Image verpassen, so wie etwa in den Niederlanden. Doch auch dort ist das Velo nicht über Nacht beliebt geworden. Es war ein langer und bewusster Prozess seit den Sechzigerjahren. Wir stehen ganz am Anfang.

«Wenn mehr Menschen Velo fahren, gibt es weniger Stau.»
Lisa Mazzone
Was passiert, wenn in alle Haushalte Flyer einer Gegenkampagne flattern, auf denen steht: Kein Geld für Velorowdys?
Aebischer: Rowdytum ist ein Problem, das wir von Pro Velo seit Jahren bekämpfen. Gerade viele ältere Leute haben ein Problem mit dem Mischverkehr, wenn Velos und Fussgänger auf einer Fläche sind. Und genau darum geht es in der Veloinitiative. Wenn das Velo in der Verfassung steht, macht man nicht einfach nur Mischflächen. Dann haben nicht einfach die Autos zwei Spuren, und für Fussgänger und Velofahrende bleiben gemeinsam noch zwei Meter übrig. In den Niederlanden gibt es fast überall Velobahnen oder Velostrassen. Da gibt es wenig Mischflächen. Man sagt, das Velo brauche eine eigene Spur. Dann sind auch die Fussgänger sicher. Es gibt jetzt gerade eine Petition des Vereins Fuss verkehr, die weniger Mischflächen fordert. Diese Forderung unterstützen wir voll und ganz. Das ist auch das Ziel der Veloinitiative.
Falls der Bundesbeschluss am 23. September angenommen wird: Können wir dann alle ent spannt zurücklehnen?
Mazzone: Zurücklehnen können wir uns natürlich nicht. Wir müssen das Pflänzchen dann hegen und pflegen – und als Pro Velo dafür schauen, dem Velo weiterhin den nötigen Platz zu schaffen.
Die Arbeit wird also nicht ausgehen?
Aebischer: Wir müssen viel Energie für den 23. September einsetzen und auch viele Ressourcen. So muss es dann aber auch weitergehen. Pro Velo Schweiz wird ein guter Partner sein, wenn es um die Umsetzung geht.
Verlangen die Aggloprogramme nicht schon heu te eine Beru?cksichtigung des Veloverkehrs?
Aebischer: Wir haben immer gesagt, dass es beim Bundesbeschluss Velo nicht um mehr Geld geht, sondern um eine sinnvolle Verkehrsplanung im Sinne der CO2-Reduktion und der Gesundheitsförderung. Viele Gemeinden machen das schon heute mit den NAF-Geldern. Es ist klar: Wenn man irgendwo für die Autos eine Umfahrung macht, dann gibt es keinen Stadtplaner mehr, der nicht auch an die Fussgänger und Velofahrerinnen denkt. Das gehört heute dazu. Bis jetzt hat er aber mehr Schwierigkeiten, seine Arbeit auf gesetzlicher Basis zu legitimieren. Wenn das Fahrrad in der Ver fassung steht, wird sich das ändern.
LISA MAZZONE
Sie ist seit 2015 Nationalrätin der Grünen Partei des Kantons Genf und war jüngstes neu gewähltes Nationalratsmitglied. Vorher war sie Mitglied des Grossen Rates des Kantons Genf und Geschäftsleiterin von Pro Velo. Sie ist Mitglied der Legislativkommission für Rechtsfragen sowie der Sicherheitspolitischen Kommission.
MATTHIAS AEBISCHER
Er sitzt seit 2011 für die SP im Nationalrat. Er war Lehrer und ab 1990 Reporter und Journalist. Von 1994 bis 2011 arbeitete er in verschie denen Funktionen für die SRG, unter anderem als Moderator von «Kassensturz» und «Club». Seit 2017 ist er Präsident von Pro Velo Schweiz. Neben Verkehrsfragen ist er in Medien und Bildungsfragen aktiv.
BUNDESCHBESCHLUSS VELO
Der «Bundesbeschluss über die Velowege sowie die Fuss- und Wanderwege» ist der direkte Gegenentwurf zur Veloinitiative. Er kommt am 23. September zur Abstimmung. Das Parlament unterstützt den Bundesbeschluss. Der Nationalrat nahm ihn mit 115 zu 70 Stimmen an. Der Ständerat hiess den Gegenvorschlag mit 37 zu 1 Stimme bei zwei Enthaltungen gut.







