«Die Niederlande haben das Velo zum Geschäftsmodell gemacht»

Die SBB werden immer wieder gelobt, beim Velotransport aber auch kritisiert. Wo stehen sie bei den wichtigsten Mobilitätsfragen? Im Streitgespräch mit Fachleuten lotet Velojournal das Potenzial für eine Velowende aus.

Pete Mijnssen, Chefredaktor (pete.mijnssen@velojournal.ch)
Schwerpunkt, 11.07.2025

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Velojournal: Die SBB wurden kürzlich von der europäischen Velolobby ECF zusammen mit der belgischen als velofreundlichste Bahn ausgezeichnet. Ich nehme an, das erfüllt Sie als  Veloverantwortlichen mit Freude?

Marc Guggenheim, SBB: Wir freuen uns über diese Anerkennung. Wir haben in den letzten Jahren viel gemacht, um den Velotransport zu verbessern – auch wenn vielleicht nicht jede unserer Massnahmen auch von den Kundinnen und Kunden wahrgenommen wird. Am Ziel sind wir aber noch nicht. 

Genau: Das Reservationssystem ist noch immer kompliziert, das Buchen von grenzüberschreitenden Reisen mit Velo ebenfalls. Bedeutet die Ehrung auch, dass die Situation im europäischen Raum noch weniger gut ist als bei uns? 

Guggenheim: Ich kann nicht für andere Bahnen sprechen, stehe aber mit Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland oder Österreich im Austausch. Grundsätzlich müssen wir immer differenzieren, wenn wir über die Velomitnahme im Zug sprechen. Geht es um ein spezifisches Veloproblem oder darum, dass viele Menschen zur gleichen Zeit mit viel Gepäck im Zug unterwegs sind? 

Bei den Veloreisen ins Ausland haben die SBB Verbesserungen angekündigt. Das wird immer wieder versprochen, aber der Kauf eines Velobilletts ins Ausland ist ein Hürdenlauf. Was läuft da falsch? 

Guggenheim: Die SBB können im Moment und wohl auch noch für ein paar weitere Jahre keine Velobillette ins Ausland verkaufen. Im aktuellen System bräuchte es eine spezifische Weiterentwicklung, die jedoch sehr aufwändig wäre und nicht im Verhältnis zur relativ geringen Nachfrage nach Velobilletten ins Ausland steht. Zumal unsere Nachbarländer den Kauf solcher Tickets über ihre Onlineplattformen bereits anbieten. Im Jahr 2029 soll es aber eine neue europäische Schnittstelle für die Bahnen geben, mit der grenzüberschreitende Bahnfahrten einfacher werden. 

Bei allem Respekt für die prämierten SBB, das Schwesterunternehmen SOB fällt immer wieder mit innovativen Lösungen auf. Ab nächstem Jahr soll eine Teilflotte der Traverso-Züge im Voralpen-Express mit flexiblen Abteilen ausgestattet werden. Was können die SBB daraus lernen, Ursula Wyss? 

Ursula Wyss: Jegliche Verbesserung für den Velotransport wird von den Velofahrenden natürlich begrüsst. Bisher haben wir aber vor allem über den Freizeitverkehr gesprochen. Wenn ich nun aber das erwähnte ECF-Rating ansehe, kommt die Schweiz etwa beim Sharing nicht so gut weg. Die Schweiz sollte darüber nachdenken, wie es gelingen könnte, Velo und Zug besser zu verknüpfen. Das OV-Fiets-System in den Niederlanden, wo der Veloverleih als integrierte letzte Meile betrachtet wird, ist ein Vorbild. 

Das Bike-and-Ride-Potenzial ist sehr hoch in der Schweiz und liesse sich mindestens um 20 Prozent steigern, wie eine Studie im Auftrag der Velomedien Anfang Jahr gezeigt hat. Wie könnte das erreicht werden?

Wyss: Es lohnt sich, die Entwicklung der Niederlande zu betrachten. Die zwei Länder sind in gewissem Mass vergleichbar. Das Bahnnetz ist hier und dort sehr gut. Doch das Konzept der Niederlande für den Alltagsverkehr ist anders: Anstatt darauf zu fixieren, dass jede Pendlerin und jeder Pendler sein eigenes Velo am Bahnhof hat, steht das Thema Bikesharing stärker im Fokus. In den Niederlanden gab es in den letzten sieben Jahren eine starke Zunahme bei den Zugpassagieren. Aber nicht, weil das Bahnangebot ausgebaut wurde, sondern weil die Erreichbarkeit der Bahnhöfe verbessert wurde. Das kam hauptsächlich kleineren Bahnhöfen auf dem Land zugute. Und damit wurden auch weniger gut ausgelastete Zuglinien gestärkt.  

Wie wurde die Erreichbarkeit der Bahnhöfe erhöht?

Wyss: Das eine sind die Abstellanlagen, die sind absolut zentral. Wer mit dem Velo an den Bahnhof fährt, muss sein Rad sicher und nahe bei den Gleisen parkieren können. Wichtig, und hier hat die Schweiz Potenzial, ist auch die letzte Meile, also der Weg vom Zielbahnhof zur Zieldestination. Hier sollten Pendelnde auch wieder ein Velo zur Verfügung haben. 

Guggenheim: «Dein Velo am Bahnhof» gibts auch in der Schweiz. Zusammen mit PubliBike-Velospot hat die SBB dieses Angebot für die letzte Meile letztes Jahr lanciert. Das Konzept ist mehr oder weniger dasselbe wie das von OV-Fiets und fokussiert ebenfalls auf eher kleinere Bahnhöfe wie Meilen, Feldmeilen, Delémont, Solothurn oder Brugg/Windisch. 

Bikesharing gibt es in der Schweiz seit Jahren. Was ist neu daran? 

Wyss: Der Pilot der SBB ist wichtig, aber leider sehr klein und noch völlig unbekannt – auch vor Ort. Bis heute ist das Schweizer Sharingangebot massgeblich städtisch organisiert, zum Beispiel in Bern oder Zürich. Primär sind das städtische Mobilitätsangebote, die auch von städtischer Finanzierung abhängen. OV-Fiets ist ganz anders. Es besteht aus mehreren Hunderttausend Velos an ziemlich allen Bahnhöfen. Die Menschen fahren zum Zielbahnhof und können dort mit dem gleichen Ticket ein Velo ausleihen. 

Sie plädieren für ein einheitliches System? 

Wyss: Das Velo sollte zu einem Teil des ÖVs werden. Mit der Integration von Publibike in den SwissPass ist hierzulande bereits ein grosser Schritt getan.

Guggenheim: PubliBike verfügt zudem bereits heute über rund 40 Standorte an Schweizer Bahnhöfen, und mit dem SwissPass lassen sich PubliBikes neu ohne Registration ausleihen.

Wyss: Da sprechen wir aber vor allem von den grossen Städten. Das Potenzial von OV-Fiets entfaltet sich jedoch gerade ausserhalb der grossen Städte. Hier sollten wir in der Schweiz auch hinkommen, das Angebot in den Agglomerationen ausbauen. In den Niederlanden können mit dieser zuverlässigen und attraktiven Kombination von Velo und Zug immer mehr Autofahrten ersetzt werden. 

Bei jedem zehnten Schweizer Bahnhof könnte der Bike-and-Ride-Anteil um 50 Prozent gesteigert werden. Wäre das keine Steilvorlage für die SBB? 

Guggenheim: Dass es noch viel Potenzial beim Bahnverkehr gibt, ist klar. Aus unserer Sicht sind hier aber vor allem die Gemeinden gefordert, die «letzte Meile» zum Bahnhof besser zu erschliessen. An den Bahnhöfen entwickeln wir gemeinsam mit den Gemeinden Veloab­stellplätze. 

Wyss: In den Niederlanden wurde für die Kombination Velo und Zug das Wort Trainfietser geschaffen. Damit ist eben nicht nur Bike and Ride gemeint. Das Ziel sollte die ganze Strecke sein: per Velo zum Bahnhof, im Zug weiter und am Endbahnhof per Velo zum gewünschten Punkt. Dafür gibt es in der Schweiz leider noch kein Angebot – mit Ausnahme des erwähnten Pilots. Nochmals das Beispiel Niederlande: in diesem Bereich haben sie in den letzten Jahren ein unglaubliches Angebot geschaffen. Es gab zuvor zwar bereits Veloabstellanlagen an Bahnhöfen, diese deckten aber eben auch nur die «erste Meile» ab. Erst mit dem «Trainfietser»-Konzept wurde das Ganze zum Business Case, mit dem die Bahn Geld verdient. Unter diesem Gesichtspunkt beurteilt der niederländische Experte Roland Kager das Potenzial von Bike-and-Ride in der Schweiz als deutlich höher. 

Was sagen die SBB dazu?

Guggenheim: Die Hälfte einer durchschnittlichen Bahnreise besteht nicht aus der Fahrt selbst, sondern aus dem An- und Wegkommen vom Bahnhof. Als Velofahrer finde ich auch, dass die Infrastruktur in der Schweiz noch besser werden muss. Die Attraktivität der Kombination Velo und Zug hängt auch davon ab, wie gut die Veloinfrastruktur ist. 

Hier setzt auch das E-Bike-City-Projekt der ETH Zürich an, das kürzlich zu Ende ging. Auf die Infrastruktur in Städten und Gemeinden haben die SBB aber wenig Einfluss. Frau Wyss, was raten Sie als ehemalige Politikerin der Bahn, um mehr Druck zu machen?

Wyss: Dank des Veloweggesetzes läuft derzeit viel in der Schweiz. Drei Viertel der Bevölkerung haben sich für mehr Veloinfrastruktur ausgesprochen. Jetzt sind der Bund, die Kantone und die Gemeinden gefordert. Die SBB dürften Velofahrende ruhig vermehrt als Business Case betrachten. Das Beispiel der Niederlande zeigt, dass insbesondere im ländlichen Raum die Kombination von Velo und Zug viele Menschen auf die Bahn bringt. 

Der Bundesrat sieht aber keinen weiteren Handlungsbedarf für mehr Engagement bei den Agglo-Programmen. Das Astra droht sogar, das Nein zum Autobahnausbau sei schlecht für die Umsetzung des Veloweggesetzes.

Wyss: Es wäre schade, wenn die Schweiz die aktuelle Chance verpasst. Bevor die Autobahnen weiter ausgebaut werden, sollten zuerst dort, wo die Verkehrsprobleme am grössten sind, nämlich in den Agglomerationen, auch die Alternativen ausgeschöpft werden. Ich vermute, dass das bei den Stimmenden im vergangenen November auch zu einem Nein geführt hat. 

Was meinen Sie mit Alternativen?

Wyss: Dass zum Beispiel die Agglomerationsprogramme stärker dazu genutzt werden, den Pendelverkehr, der zu einem grossen Teil auf Strecken unter fünf Kilometern stattfindet, mehr aufs Velo zu bringen. Das trifft immerhin auch auf einen Drittel des Verkehrs auf den Autobahnen zu. Wenn nur die Hälfte vom Auto aufs Velo umsteigt – und im Pendlerverkehr ist das realistisch –, gäbe das schon eine enorme Entlastung der Autobahnen. Ganz ohne Ausbau. 

Auch bei den sogenannten Verkehrsdrehscheiben stehen die SBB im Zentrum. Was ist hier der Stand?

Guggenheim: Diese Immobilienentwicklungen sind ein Erfolgsmodell und bringen an den Verkehrsknotenpunkten Wohnen, Arbeiten und Mobilität zusammen. Derzeit verfolgen die SBB schweizweit rund 150 solcher Projekte in unterschiedlichen Planungs- und Umsetzungsphasen. Etwa in Liestal, Dietikon oder Rotkreuz. 

Wyss: Leider sind diese im Moment nur über den Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds NAF mitfinanziert. Es wäre wichtig, dass auch der BIF (Bahn-Infrastruktur-Fonds) zur Finanzierung hinzugezogen würde, wie dies ein Vorstoss fordert. Hier liegt die Finanzierung vollumfänglich beim Bund. Des Weiteren braucht es für die Verkehrsdrehscheiben eine übergeordnete Strategie, die nicht einfach den Blick der Immobilienverwaltung hat. Das führt dazu, dass Veloabstellanlagen mit McDonaldʼs-Filialen an den Bahnhöfen konkurrenzieren müssen. Veloabstellanlagen müssen als Teil der ganzen Kundenzufriedenheit verstanden werden. 

Wohin geht die Reise für Sie als Vertreter der SBB? 

Guggenheim: Wenn die Gemeinden die Anschlüsse an die Bahnhöfe für den aktiven Verkehr stärker vorantreiben, ist das zu begrüssen. Sicher ist: Wenn die erste und letzte Meile attraktiver wird – weil sie etwa mit dem Velo gemacht werden kann –, wird auch die Bahnfahrt attraktiver. Gerade auch im Freizeitverkehr. 

Die Schweiz zwischen Veloabstellanlagen, Mc-Donaldʼs-Filialen und einem zukünftigen «Velo-Disneyland»: Wie sieht die Veloschweiz für die Expertin aus?

Wyss: Wir brauchen vor allem eine gut ausgebaute Velo-Infrastruktur. Die Mehrheit der Bevölkerung – also die Mitte der Gesellschaft – möchte mehr und sicher Velo fahren und dabei auch Spass haben. Das sollten wir als Infrastrukturnation möglich machen. 

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