Wie ein paar Enthusiasten das Velonetz erfanden

Schweiz Mobil ist ein Grundpfeiler der Schweizer Veloinfrastruktur. Es handelt sich dabei aber nicht etwa um ein Bundesprogramm. Vielmehr entstand die Organisation dank einer kleinen Gruppe kurz vor der Jahrtausendwende.

Emil Bischofberger, Autor
Kultur, 21.11.2025

Gefühlt sind die dunkelroten Velo-Wegweiser mit ihren weissen Routennummern auf himmelblauem Grund schon immer da. Sie gehören heute genauso zum Schweizer Landschaftsbild wie die gelben Pendants der Wanderer. Wer jedoch schon etwas länger mit dem Velo unterwegs ist, weiss, dass die Geschichte des Schweizer Velonetzes deutlich jünger ist. Wer diese Zeit nicht miterlebt hat, kann sie neuerdings selber nachlesen oder -hören. In aufwendiger Recherchearbeit wurde die Geschichte der Schweizer Radwege und damit der Langsamverkehrsplattform Schweiz Mobil niedergeschrieben und eingesprochen, in Form einer ausführlichen Publikation und eines dreiteiligen Podcasts.

Ordnung in 50 Bananenschachteln

Es ist die Geschichte einer Gruppe von velofahrenden und politisch engagierten Idealisten, die es schafften, mit einem komplett apolitischen Ansatz alle von der Notwendigkeit eines Schweizer Velowegnetzes zu überzeugen. Damit zeigen sie: Das Velo an sich ist kein Politikum. Sondern einfach ein so praktisches wie genügsames Fortbewegungsmittel.

Normalerweise werden Geschichten wie diese anlässlich eines Jubiläums aufgeschrieben. Im Falle von Schweiz Mobil waren es jedoch praktische Gründe. Man wollte Ordnung in all die Dokumente aus den Anfangszeiten der Organisation bringen. Im Velobüro Olten, wo alles seinen Ursprung hatte, standen nicht weniger als 50 Bananenschachteln gefüllt mit Dokumenten. Der Historiker Roger Sidler wurde beauftragt, diese zu sichten. Das Produkt seiner Arbeit ist die 120 Seiten starke Broschüre «Durchstarten beim Langsamverkehr – Wie Schweiz Mobil entstand». Dafür arbeitete Sidler während eines Jahres vor Ort im Velobüro, unterstützt von Markus Capirone und Béatrice Nünlist, eine der treibenden Kräfte hinter den Schweizer Velowegen.

«Es musste ein unabhängiges Projekt sein, an dem jedermann Freude haben konnte.»

Markus Capirone

Es war in der Altjahreswoche 1989, als Capirone sich nach einem feuchtfröhlichen Abend an seine Schreibmaschine setzte und ein Gesuch tippte. Für die 700-Jahr-Feier der Schweiz 1991 konnten bis zum Ende des Jahres Projektanträge eingereicht werden. Am Vorabend hatten Capirone und seine Mitstreitenden, alles begeisterte Velowandernde, wie sie sich selber nannten, die Idee der Radwanderwege Solothurn ausgeheckt. Ein echtes Velowegnetz kannte die Schweiz zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nur veraltete oder unzuverlässige Daten in Form einer Wegweisung des Schweizer Radfahrerbundes (heute Swiss Cycling) sowie die VCS-Velokarten.

Das Projekt «Solothurner Radwanderweg» wurde vom Regierungsrat tatsächlich gutgeheissen und von der Gruppe zügig und innerhalb des Budgets umgesetzt. Gleichzeitig dachte das federführende Velobüro um Capirone, seine Partnerin Béatrice Nünlist, Rolf Bruckert und Thomas Ledergerber schon weiter. 1993 nahm man die Planung eines nationalen Velonetzes, «Veloland Schweiz», in Angriff. Dazu entwarfen die Initianten acht Routen quer durchs Land. Noch im gleichen Sommer fuhren sie die Strecken ab.

Die drei Erfolgsfaktoren

Eine grosse Hürde musste jedoch überwunden werden, bis die Eröffnung 1998 Realität werden konnte. Das mit 9 bis 11 Millionen Franken budgetierte Projekt sollte primär von den Kantonen finanziert werden, nach einem Verteilschlüssel, der unter anderem Streckenlängen und Bevölkerung einbezog. Damit dieses Vorhaben tatsächlich Erfolg hatte, waren laut Capirone mehrere Faktoren entscheidend.

Erstens waren die Initianten sehr darauf bedacht, Veloland Schweiz so apolitisch wie möglich zu präsentieren – auch wenn etwa die IG Velo Schweiz (heute Pro Velo) gerne ihr Logo auf dem Projektabsender gesehen hätte. «Es musste ein unabhängiges Projekt sein, an dem jedermann Freude haben konnte», sagt Capirone, der persönlich bei den Grünen politisch aktiv war.

«Die Touristiker wollten es ‹Schweiz aktiv› nennen. Aber so ein Name interessiert Baubehörden nicht.»

Markus Capirone

Zweitens brauchten sie einen Gewährsmann, eben weil Capirone und Co. einen politischen Ruf hatten. Sie fanden ihn in George Ganz, dem Sekretär der Konferenz der Bau- und Umweltdirektoren aller Kantone. Ganz leistete Überzeugungsarbeit bei diesen Entscheidungsträgern und war damit ein zentraler Protagonist für das Gelingen von Veloland Schweiz, wie das Projekt ab der Gründung der gleichnamigen Stiftung 1995 offiziell hiess.

Drittens war die Grösse von Veloland Schweiz entscheidend. Capirone sagt: «Wenn man etwas erreichen will, braucht es ein Leuchtturmprojekt, das einen grösseren Zusammenhang herstellt.» Das lernte er bei den Solothurner Radwanderwegen, als er realisierte, dass Gemeinden einfacher zu überzeugen sind, wenn sie merken, dass sie Teil eines kantonalen Projekts sind. Dieser Mechanismus spielte nun eine Ebene höher genauso. Was nicht heisst, dass die Veloland-Beiträge überall nur abgenickt wurden. Erst nach mehrfachem Nachhaken sprachen auch die Kantone Waadt und Zug ihre Beiträge: Dabei half nicht zuletzt, dass man spät noch die Seen-Route Nummer 9 integriert hatte, die prominent durch diese beiden Kantone führte, womit die Gesamtlänge des Veloland-Routennetzes 3300 Kilometer betrug.

Von der Expo.02 zu Schweiz Mobil

Parallel dazu liefen schon die nächsten Veloprojekte an: Für die Expo.02 im Seeland konzipierte das Velobüro ebenfalls ein Velowegkonzept, zudem ersann man für die Landesausstellung den Slowup, der heute jährlich in 19-facher Ausführung im ganzen Land stattfindet. Gleichzeitig lief auch das grösste Projekt an: die Zusammenlegung des Langsamverkehrs auf einer Plattform – Schweiz Mobil. 

Den Namen ersann Capirone, er setzte sich dabei gegen die Touristiker durch, die sich für «Schweiz aktiv» eingesetzt hatten. «Aber so ein Name interessiert Baubehörden nicht. Und an diese richtete sich dieses Infrastrukturprojekt ja letztlich», so Capirone. Auch das Logo, ein weisses Sternchen auf rotem Grund, das man heute primär als Symbol der Schweiz-Mobil-App kennt, entwarf er: Es entstand als Skizze auf dem Rand eines Bauplans. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein Sternchen, sondern stellt eine fröhliche kleine Person dar, die für eine aktivere Schweiz stehen soll.

Überhaupt, die Veloland- und Schweiz-Mobil-Designsprache: Auch die Wegweiser mit den himmelblauen Nummern stammten aus dem Velobüro, konkret von der Grafikerin Béatrice Nünlist. Sie gehören heute zur Schweizer Signalisation wie die gelben Wanderwegweiser. «Das löst in Béatrice bis heute etwas aus. Sie sagt oft, dass das schon verrückt sei: An jedem Bahnhof, an dem sie aussteige, sehe sie als Erstes ‹ihre› Routenfelder», erzählt ihr Lebenspartner Capirone.

Was der Erfinder empfiehlt

Der 70-Jährige ist heute nicht mehr so oft mit dem Velo unterwegs. Der Verkehr ist ihm zu dicht geworden. Beim Telefoninterview erwischt man ihn in den Ferien auf der autofreien Insel Hiddensee in der Ostsee. Nach einer Empfehlung gefragt, entscheidet er sich für die Nummer 5, die Mittelland-Route von Romanshorn nach Lausanne, die auch durch seinen Kanton Solothurn führt. «Sie ist so angelegt, dass sie für die meisten Leute bei uns akzeptabel ist, weil sie am wenigsten anspruchsvoll ist», sagt Capirone, dem dann auch noch die Rhein- (Nummer 2) und die Rhone-Route (Nummer 1) als Alternativen einfallen. Er verwirft die Gedanken aber sogleich wieder, weil sie von den Velofahrenden «Sauhöger namens Pass» oder «eine Ochserei durch die Weinberge» abverlangen. Weshalb er schliesst mit: «Nein, die Nummer 5 ist es. Sie ist keine Sensation, sondern ein gutschweizerischer Kompromiss. Und die kinderfreundlichste Route dazu.»

Auch für den wichtigsten Entwicklungsschritt von Schweiz Mobil war noch die Oltener Crew um Capirone verantwortlich, der sich zusammen mit Nünlist seit 2019 schrittweise aus dem Projekt zurückzieht. Ab 2012 schaffte man den Schritt vom analogen Kartenwerk in die digitale Gegenwart: Bis Ende 2024 wurde die Schweiz-Mobil-App 2,2 Millionen Mal heruntergeladen. Die analoge Version hat aber ebenfalls viele Fans: Noch heute werden jährlich eine Million A4-Kartenausschnitte zum Ausdrucken heruntergeladen.

Als PDF zum Download. Der Link führt auch zum dreiteiligen Podcast

Wer sich für eine gedruckte  Version interessiert, wendet sich an: markus.capirone@velobuero.ch

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