Nicht einmal jeder 50. Einwohner des Kantons Tessin legt seine Wege mit dem Velo zurück. Die Südschweizerinnen und -schweizer schwingen sich also fast dreimal weniger auf den Sattel als der Landesdurchschnitt. Der Status quo soll aber nicht bedeuten, dass die Bevölkerung der Schweizer Sonnenstube eine grundsätzlich ablehnende Haltung zum Velo hat. Wäre dem so, hätte der «Bundesbeschluss Velo» dort nicht eine Zustimmung von 75 Prozent erreicht.
Wie ist es dann zu erklären, dass das Fahrrad im Kanton ein Nischendasein führt? Zahlreiche Personen fahren täglich zum Arbeiten über die Grenze ins Tessin, wie Pro-Velo-Ticino-Präsident Marco Vitali sagt. Und ergänzt: «Grenzgängerinnen, aber auch die Einheimischen, nutzen als Fortbewegungsmittel hauptsächlich das Auto. Denn trotz der Bemühungen der letzten Jahre ist das Tessin noch immer unzureichend mit öffentlichen Verkehrsmitteln versorgt.» In der Folge sei der private Motorfahrzeugverkehr stets gewachsen. Es brauche ein Umdenken.
Die Basis für eine Wende wurde bereits Ende der 90er-Jahre gelegt. 1996 fand in Lugano die UCI-Strassen-WM statt. Der internationale Radsportanlass entfachte laut Marco Vitali bei der Bevölkerung erneut das Feuer für das Velo.
Ein Wendepunkt
Der Funke sprang auf eine Gruppe über, die sich fortan auf Kantonsebene für die Anliegen der Velofahrenden einsetzte. Wurden Veloprojekte damals nur einzeln auf Gemeindeebene umgesetzt, so machte sich die sogenannte «Unterstützungsgruppe» für ein zusammenhängendes Netzwerk stark. Aus der Gruppe ging 2010 Pro Velo Ticino hervor. «Auch wenn die 90er einen Wendepunkt bedeuteten: Der Weg zu einem velofreundlicheren Tessin war und ist lang», konstatiert Vitali.
In jüngerer Zeit brachte ein Veloweg-Projekt den Kanton aber ein Stück voran. Das Parlament bewilligte einstimmig einen Kredit, der Mittel für ausserstädtische und touristische Routen freimachte. Aus rechtlichen Gründen war es noch nicht möglich, Velorouten innerorts zu bauen. Das Projekt in der Valle Maggia war das einzige, das umgesetzt werden konnte. Auf rund 40 Kilometern Länge verbindet ein Weg die Stadt Locarno mit dem Ort Cavergno im hinteren Maggiatal. Die Strecke führt grösstenteils abseits der Hauptstrasse über ein stillgelegtes Bahntrassee. Ein Grossteil ist gebaut, 2019 soll die Strecke fertig sein.
Nach dem Tourismus folgt der Alltag
Diese erste Zuweisung von Mitteln habe den Weg für eine stärkere Fokussierung auf das Radfahren in städtischen Gebieten geebnet, sagt Marco Vitali. «Was übrigens auch eine Bedingung des Bundes ist, damit er sich im Rahmen des Agglomerationsprogramms an Infrastrukturprojekten des Kantons beteiligt.» Bedarf sieht er weiterhin im Sottoceneri mit den zwei bevölkerungsreichen Städten Mendrisio und Lugano. Trotz einer Vervielfachung der Infrastrukturprojekte und einer gestiegenen Bereitschaft, Mobilitätskonzepte zu überdenken, sei das Radfahren hier weder sicher noch bequem.
Pro Velo stehe deshalb weiterhin in der Pflicht, sagt Vitali. «Es geht uns darum, die Umsetzung von Projekten zu beschleunigen. Wir wollen auch vermitteln und einen Konsens finden, wenn Veloprojekte den Autoverkehr beeinträchtigen können – zum Beispiel, wenn Parkplätze zugunsten eines Radstreifens aufgehoben werden», führt er weiter aus.
Die Tessiner Lobbygruppe schaut auch bei geplanten Velorouten genau hin. Das Wegnetz rund um Lugano wird in den kommenden Jahren ausgebaut, etwa in Richtung Val Colla. «Die für den Kanton wichtige Strecke wird aber nur dann ein Juwel, wenn sie keine Abschnitte aufweist, auf denen Radfahrende nicht vorwärtskommen», kommentiert Vitali.
Gar überregionale Ausstrahlung könnte ein Veloweg zwischen Lugano und Melide haben – sollte er denn gebaut werden. Das Projekt ist ambitiös. Die Pläne sehen einen Seeuferweg vor, der getrennt von der Strasse verläuft und sozusagen über dem See schwebt. FDP-Nationalrat und Pro-Velo-Mitglied Rocco Cattaneo hat bereits seine Unterstützung für das 20-Millionen-Projekt zugesagt. Er spricht von einer «Veloautobahn», die dereinst für Pendlerinnen und Touristen von grosser Bedeutung sein könnte.







