Bocksprünge des Zeitgeists

Je nach Epoche gilt das Zweirad seit zweihundert Jahren als Symbol der Zukunft oder als Vehikel für arme Rückständige. Am Ende beisst sich die Schlange in den eigenen Schwanz.

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Dres Balmer
30.01.2019

Zeitgeist kann ganz schön launisch sein. Als Karl Drais im Sommer 1817 von Mannheim aus mit seiner Laufmaschine die Jungfernfahrt unternimmt, sorgt er für grosses, aber kurzes Aufsehen; in den folgenden fünfzig Jahren kommt sein Gerät dem kollektiven Gedächtnis abhanden, erreicht auch nie industrielle Herstellung. Das schaffen ein halbes Jahrhundert später erst das Velociped, dann das Hochrad.

Mit dem Niederrad, also dem klassischen modernen Fahrrad, explodiert ab dem Jahr 1888 eine Mobilitätsrevolution, welcher die Bezeichnung Velorution gebührt. Das Velo wird weltweit eine grosse Mode und gilt neben der Eisenbahn als das Verkehrsmittel der Zukunft schlechthin.

Die Velorution lässt eine eigene Kultur entstehen. Jede Stadt, die etwas auf sich hält, führt ein Kirmes-Rennen für Männer und Frauen durch, in manchem Dorf gibt es einen Velo-Club, die Touring-Clubs der Schweiz, Frankreichs und Italiens sind Vereine für Radfahrer.

Die nächste Revolution beginnt am selben Ort wie Drais’ Reise auf der Laufmaschine, nämlich in Mannheim. Dort startet Carl Benz 1886 zur Pressefahrt auf seinem Patentmotorwagen, er läutet das automobile Zeitalter ein, und das geht radikal: Kurz nach dem Jahr 1900 haben sich alle Touring-Clubs in Organisationen für Automobilisten verwandelt. Dennoch bleibt die Velomobilität bis zum Zweiten Weltkrieg solide.

Von Mannheim geht die zeitgeistliche Reise nun zur Passstrasse am Grossglockner. Diese Mautstrasse wird Anfang August 1935 eröffnet, zu einer Zeit, in der die Velomode auch in Österreich noch blüht. In den ersten fünf Sommern bis zum Zweiten Weltkrieg sind am Pass 20 von 100 Fahrzeugen Velos; um die Jahrtausendwende 2000 ist es 1 Velo pro 1000 Fahrzeuge.

Mit dem Wirtschaftwunder nach 1945 gerät das Velovolk in ein Schattendasein, das bis etwa 1980 andauert. Diese Zeiten kann man ein wenig nachfühlen, wenn man auf dem Velo in Ländern unterwegs ist, die später als Westeuropa zu Wohlstand kamen. Die Einheimischen denken, man sei auf zwei Rädern unterwegs, weil man sich die Verwirklichung ihres Autotraums nicht leisten könne. Für etwa drei Milliarden Einheimische auf der ganzen Welt ist das Auto ersehnte Zukunft, für immer mehr Westeuropäer sind die anderthalb Tonnen Schrott pro Person längst ein obsoletes Objekt, also Vergangenheit. Die Zukunft muss andere Mobilitäten erfinden, und das Velo übernimmt da eine wichtige Rolle.

Für ein überraschendes Zusammentreffen von Zukunft und Vergangenheit sorgt auch der Bundesrat Anfang Januar 2019, indem er verlauten lässt, er wolle grosse Teile des Autobahnnetzes «konsequent auf mindestens drei Spuren» verbreitern lassen. Das ist kein Bocksprung, sondern ein dreifacher Rückwärtssalto ins letzte Jahrhundert.

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