Lieber langwellig als langweilig

Weil Bern—Paris auf der Direttissima langweilig flach ist, sucht der abenteuerlustige Gravelbiker hügelige Umwege. Die Routen­planung in letzter Minute birgt allerdings Lücken und Tücken.

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Simon Joller
Reisen, 20.03.2025

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Rund 180 Kilometer vor Paris lotst mich mein lilafarbener GPS-Track an einen Kanal, von dem ich nicht einmal wusste, dass er existiert. Obwohl er einst vielbefahrener Lebensretter für die französische Hauptstadt war. Heute liegt er ruhig, Laubbäume neigen sich über seine Ufer, unter ihrem Blätterdach ein Radweg. Gerade quert er ein verschlafenes Dorf. Quel rêve. Träume ich tatsächlich? Sind das nicht Biber vor dem altersschrägen Häuschen ennet dem Kanal?

Tatsächlich watscheln da zwei von ihnen zwischen Enten und Haushund über die Wiese. Eine schöne Überraschung, ausgerechnet auf diesem Streckenteil zwischen Loire und Seine, der eigentlich nur ein Lückenfüller war. Und eine Wiedergutmachung nach einer weniger schönen Überraschung in der Nacht zuvor.

Tag 1: Zu früher Sonnenuntergang

Drei Tage zuvor in Bern. Am Mittag soll meine Tour nach Paris starten. Um der oft gehörten Langweile dieser Strecke zu entgehen, nehme ich das Gravelbike und will statt der Direttissima Umwege fahren. Noch immer suche ich mit dem Routenplaner Komoot Wege abseits von Verkehr und Langeweile. Zuerst westlich durch den Jura und das Burgund an die Loire, von da dann hoch bis ­Paris. In zwei Stunden will ich los, doch noch klaffen Lücken, im Burgund oder zwischen Loire und Seine. Ich übergebe den Algorithmen. Die schliessen sie subito, aber unkontrolliert. Wird schon.

Punkt 12 Uhr der Start vor der Haustür. Das Ziel heute: im besten Fall Pontarlier, der erste grosse französische Ort auf meiner Route. Doch schon auf den 115 Kilometern und 1500 Höhenmetern bis dorthin hat die Route Unbekannte. Einige Wege könnten buchstäblich Wanderwege sein. Mit dem Minimalgepäck des Hotelreisenden rollt es sich zu Beginn aber angenehm leicht der Aare entlang. Sie ist der erste von vielen Flussläufen, denen meine Strecke folgt. Den Weg zeigt mir die lila Linie auf dem Bildschirm des GPS-Geräts.

Nach 30 Kilometern, im Seeland, liegt plötzlich nur noch wucherndes Grün, wo die lila Linie einen Weg beschreibt. Mit dem Mountainbike vielleicht fahrbar, aber auch dann unanständig durch Bauers Grasland. Also einen Umweg suchen. Dass das nicht das letzte Mal sein wird, ist mir bewusst. Dass das im Seeland aber einfacher geht als mitten in Frankreich, das ahne ich da noch nicht.

In Neuchâtel geht es hoch. Im Schritttempo über die gefühlt senkrechte Rebbergstrasse, in den Jura, in den Wald. Die Stadt unterhalb greifbar nah und doch so weit weg. Ein erster Singletrail. Das Lieblingsrevier des Mountainbikes, eine Herausforderung für das Gravelbike. Ich bin angekommen in den Abenteuerferien, die ich suche. Der Kilometerschnitt allerdings sinkt beunruhigend tief. Ich suche vorsichtshalber Alternativ-Unterkünfte vor Pontarlier.

«Die Schotterumwege servieren Höhenmeter und Rollwiderstand. Was bei der Planung so lohnend schien, bremst mein Ziel Pontarlier aus.»

Unterhalb des mächtigen Creux du Van fällt die Areuse in ihrer Schlucht über Felsen. Wer ihr entgegenfährt, muss den Wiegetritt mögen. Und akzeptieren, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit sinkt und sinkt. Im Val de Travers wird es endlich flacher. Ich hole Zeit auf. Also doch bis Pontarlier heute? Noch vor dem Grenzübergang in Les Verrières blendet die Abendsonne. Die Schotterumwege servieren Höhenmeter und Rollwiderstand. Was bei der Planung so lohnend schien, bremst mein Ziel Pontarlier aus. Die wenigen Unterkünfte auf der Strecke dorthin sind alle geschlossen. Also die schöne Gravel-Planung über den Haufen werfen und auf Asphalt vorbei am Stau, hinein nach Pontarlier. Ein Hotel am Stadtrand voller Reisecar-Touristen hat die einzigen freien Betten. Das sollte Frankreich in den kommenden Nächten doch besser hinbekommen.

Tag 2: Bienvenue en France

Wie der erste Tag ganz in Frankreich wohl wird? Dieses Land, oft weit und einsam, dann wieder pompös und voller Geschichte. Der Start ist einsam, aber betörend. Ein Hochmoor voller Tierstimmen und Blütenzauber. Blumen, so lila wie meine GPS-Linie, die mich mittendurch schicken will. Wieder ein Pfad, den die Natur verschluckt hat. Wo durch nun? Die Wegdichte ist gering, die Suche zeitfressend. In der Weite werden auch die Umwege weit. Kein Wunder, stecken sie voller Überraschungen. Nach der einen Kurve der berauschende Weitblick über das nebelverhangene Moor, nach der nächsten der Hund, der mit den Vorderpfoten auf das Oberrohr meines Gravelbikes hechtet. Mein Herz beschleunigt, die Halterin sagt vielmals Pardon. Und ihr ungestümer Kerl? Der will nur möglichst viele Streicheleinheiten abholen. Frankreich begrüsst mich herzlich.

«Zwischendurch beschleicht mich das Gefühl des Verloren­seins. Was, wenn ich einen Defekt habe? Einen Sturz? Hunger hätte ich auch.»

Das weite Moor geht über in weite Weiden mit weissen Schotterstrassen. Dann tauche ich ein in einen Wald, ignoriere Fahrverbote, die kaum für Radtouristen gedacht sind. Und wenn auch: Hier ist niemand, den das stören könnte. Gefühlte Ewigkeiten gibt es nur mich und Tausende Tannen. Diese ungewohnten Dimensionen, diese Einsamkeit – sich daran zu gewöhnen, ist gar nicht so einfach. Zwischendurch beschleicht mich das Gefühl des Verlorenseins. Was, wenn ich einen Defekt habe? Einen Sturz? Hunger hätte ich auch.

Und als ich mir immer sehnlicher das Frankreich der «Boulangeries» und «Villages Fleuris» herbeiwünsche: das Dorf Château-Chalon, auf eine Felskante geklebt, mit weitem Blick über das Burgund. Ein Dorf mit jahrhundertealter Geschichte, eines der schönsten in Frankreich, so lese ich später. In einem seiner kühlen Innenhöfe bestelle ich eine Limonade, mit dem zu meinen letzten Fahrstunden passenden Geschmack «Tanne». Délicieux. Dazu Baguette und Frischkäse. Mit vollem Bauch rollt es sich zügig bergab, weiter durch Dörfer und Dörfchen. Dazwischen Feldwege, manchmal kilometerlang pfeilgerade. Sieht so die Langeweile aus zwischen Bern und Paris? Hitze, Staub und Gegenwind helfen den negativen Gedanken auf die Sprünge. Bevor sie sich festkrallen, taucht mein Tagesziel Chalon-sur-Saône auf. Statt wieder die Hotelkette am Stadtrand zeigt mir der Hotelier sein letztes Zimmer im prächtigen Altstadthaus. Günstig, das Fenster auf den Flur. Aber selbst der ist prächtig wie in einem Château. Frankreich kann es eben doch.

Tag 4: Langeweile im Paradies

Am vierten Tag erwischt sie mich doch noch, die Langeweile. Es ist kurz vor Mittag. Zu viel Asphalt, zu lange keine Kurve. Oder war es doch nur das Zuckerloch? Nach einer dicken «Tarte à la crème» jedenfalls ist die gute Laune zurück. Und aus Langeweile wird Musse. Wie schön es doch ist, nichts anderes tun zu müssen, als Rad zu fahren. Etwas besorgt blicke ich aber auf das Ende meiner Strecke an der Loire. Ab Briare soll es quer durchs Land an die Seine gehen. Ein weiterer Streckenteil, erstellt vom Computer.

Doch auch nach Briare liegt neben meinem Radweg noch immer ein Kanal. Verblichene Hinweistafeln erzählen, wie Tausende Arbeiter im 17. Jahrhundert diese Wasserstrasse zwischen Loire und Seine gebaut haben. Inklusive zahlreicher Schleusen. So konnte das damals bereits eine halbe Million Einwohner zählende Paris mit Schiffen versorgt und eine Hungersnot gelindert werden. Heute wird der historische Kanal kaum mehr befahren. Und auch sonst ist nicht mehr viel los hier. Die einzige Unterkunft weit und breit gleicht einem Hexenhäuschen, schräg und zerfallen. Drinnen ist es kaum besser, die Duschwanne mit Klebeband geflickt, aber trotzdem undicht, der Abfalleimer nicht geleert, im Bad keine Vorhänge am Fenster zur Strasse. Ich bin der einzige Gast. Ein seltsames Gefühl, hier mitten in Frankreich.

Tag 5: Verloren im Wald der Künstler

Nach der überraschend ungastlichen Übernachtung eine Überraschung, welche die einen unschön nennen mögen, die mich als Reptilienliebhaber aber begeistert. Im Morgenlicht der ersten Kilometer sonnt sich eine stattliche Schlange mitten auf dem Radweg. Erst energisches Stampfen bewegt die ungiftige Natter dazu, Platz zu machen.

Und kaum weiter, entdecke ich die zwei Biber ennet dem Kanal. Entgegen aller Erwartungen bin ich auf den schönsten und erlebnisreichsten Kilometern der ganzen Tour gelandet. Viel Grün, viel Geschichte, die immergleichen und immer gleich schönen Schleusenwärterhäuschen, stattliche Landhäuser als Vorboten der Grossstadt Paris, eine beruhigende Ruhe auf den kaum je für Autos befahrbaren Wegen beidseits des Kanals. So sieht stiller Genuss aus, so tönt er.

«Nach der Fahrt am nächsten Morgen zum Bahnhof stehen 777 Kilometer auf dem Tacho. Eine Schnapszahl, die mir berauschende Erlebnisse statt ernüchternder Langeweile beschert hat.»

Kurz bevor der Kanal die Seine erreicht, kürzt meine Route ab durch den Wald von Fontainebleau. Es läuft gut, ich könnte schon heute in Paris ankommen. Fontainebleau ist eines der grössten zusammenhängenden Waldgebiete Westeuropas, durchzogen von hunderten Wegen und Pfaden. Der Wald mal licht, mal dicht, der Weg mal sandig, mal wurzlig, mal schlammig, mal schottertrocken. Am schönsten: eine märchenhafte Rollerstrecke durch farnüberwucherte Felslandschaften. Kein Wunder, haben in dieser Gegend Impressionisten wie Claude Monet Inspiration gefunden.

Doch je weiter ich in den Wald hineinfahre, umso öfter sind Wege zugewachsen, bei anderen werden Fahrverbote mit Gittertoren durchgesetzt. Ich stecke zum vierten Mal in einer Sackgasse fest, muss auf eine unangenehm befahrene Route Nationale ausweichen und beschliesse: raus aus dem Wald. Sonst wird das nichts mit einem Nachtessen in Paris heute.

Kaum aus dem Wald, bin ich auch schon bald an der Seine. Der zugewachsene Singletrail zu Beginn lässt kaum Blicke frei auf den Fluss, der mich nach Paris begleiten soll. Und das so nah an der Grossstadt! Es folgen Vorstadt, Hochhäuser, erste Touristen, immer mehr Touristen, die grandiosen Radwege im Stadtzentrum, der Eiffelturm. Ich bin angekommen, finde im Nu Hotel und Restaurant, tauche kurz ein ins Leben der Grossstadt und dann ab ins Land der Träume. Nach der Fahrt am nächsten Morgen zum Bahnhof stehen 777 Kilometer auf dem Tacho. Eine Schnapszahl, die mir berauschende Erlebnisse statt ernüchternder Langeweile beschert hat. 

Angaben zur Tour

Start: Bern

Ziel: Paris

Distanz: 777 km

Höhenmeter: 3200 hm

Übernachtung: Das Angebot an Hotels ausserhalb grösserer Ortschaften ist auf dieser Strecke überschaubar. Frühzeitige Buchung lohnt sich. Auch Campingplätze sind meist eher dünn gesät. 

Rückreise: Direktverbindungen mit dem TGV Lyria in 3 Stunden nach Basel, das Fahrrad muss in eine Tasche. Alternativ: TGV-Verbindungen mit Umsteigen und Stell­plätzen für Fahrräder.

Beste Reisezeit: März/April bis Oktober/November, im Hochsommer kann es auf den flachen, offenen Passagen heiss werden.