Abenteuer im 21. Jahrhundert

Silvia Gottardi und Linda Ronzoni spielen in ihrem eigenen Dokumentarfilm die Hauptrollen. Für «Cicliste per Caso – Grizzly Tour» fuhr das frisch vermählte Ehepaar mehr als 4000 Kilometer auf der Great-Divide-Route.

Bruno Angeli, Autor

Bruno Angeli, Autor (info@bruno-angeli.ch)
Film, 17.09.2021

Das Projekt war von Anfang an ehrgeizig. Für 2018 nahmen sich Silvia Gottardi und Linda Ronzoni vor, die Great-Divide-Mountainbike-Route abzufahren. Planung und Organisation der Reise oblagen dabei Silvia. Ein ganzes Jahr dauerten die Vorarbeiten. Es galt, die Strecke festzulegen, Partner und Unterstützerinnen zu finden. «Ich habe Hunderte Mails verschickt, um Unterstützer zu finden. Auf 100 Anfragen kamen vielleicht fünf Antworten», erzählte Gottardi einer Journalistin von bikeitalia.it.

Für diese lange Reise stiessen zwei gute Freundinnen hinzu und ergänzten das Team: Simona Pezzano und Ramona Linzola. Beide waren unverzichtbar und halfen, dass die Tour auch in logistischer Sicht funktionierte. Linzola war mit Gottardi für die Videoaufnahmen zuständig. Gottardi: «Wir merkten bald, dass es schwierig sein würde, mit vier so unterschiedlichen Charakteren ein solch hartes Unterfangen sowohl in physischer wie auch in mentaler Weise gut durchzustehen.»

Im Film gibt es denn auch immer wieder Szenen, in denen die Anspannungen spürbar werden. Etwa – was auf der Reise immer mal wieder vorkam –, wenn die falsche Abzweigung gewählt wurde. Oder wenn Hagel und Sturm die Reisenden an die Grenzen ihrer Kräfte brachten. Zudem merkten die vier, dass auch die beste Planung manchmal an der Realität scheitert.

So ging bereits zu Beginn der Tour die Kameradrohne kaputt. Dies hatte einen ganz anderen Film zur Folge als ursprünglich gedacht. Der Fokus lag nun auf den Unterschieden zwischen dem frisch vermählten Paar. Hier die intellektuelle und nachdenkliche Linda, dort die immer aktive und von sportlichem Ehrgeiz beseelte Silvia. Linda: «Für mich heisst Freude am Reisen auch, anhalten zu können, um zu verstehen, was los ist, mir mal eine Stunde klarzumachen, wo ich bin. Ich brauche solche Momente, ich muss abschalten können. Wir sollten uns nicht der Anstrengung wegen anstrengen.»

Silvia: «Ich glaube, ich bin etwas masochistisch veranlagt, so wie tatsächlich alle Velofahrenden in dem Sinne, dass Anstrengung und Erschöpfung zum Sport gehören.» Und weiter: «Wenn ich den höchsten Punkt eines Passes erreicht habe, bin ich stolz darauf, dass ich es mit meinen eigenen Beinen geschafft habe. Dann kommt die Abfahrt. Die Abfahrt ist Freude pur. Freiheit, ein Moment des Glücks, den man nicht beschreiben kann.»

Karten statt GPS

Der Dokumentarfilm dauert 67 Minuten – zusammengeschnitten aus 110 Stunden Filmmaterial! Gedreht wurde mit vier Kameras. Nach den täglichen acht bis neun Stunden auf dem Tourenvelo und dem Zeltaufbau mussten die Materialien heruntergeladen, katalogisiert und zur Sicherheit auf zwei Festplatten gespeichert werden. Bei der Rückkehr der Reisenden war das grösste Problem die Auswahl der Inhalte. Hier half zum Glück die Produktionsfirma weiter.

«Cicliste per Caso – Grizzly Tour» ist sehenswert. Die Entscheidung der Filmemacherinnen, ganz auf GPS-Geräte zu verzichten und stattdessen komplett auf Tourenkarten zu setzen, verleiht dem Film das nötige Abenteuer-Feeling. Und dass der Anti-Bären-Spray nicht zur Anwendung kommen musste, darüber beklagt sich wohl niemand.

Alle Velofahrenden, die schon eine Reise mit mehr als einer weiteren Person unternommen haben, werden sich in diesem Dokumentarfilm wiederfinden. Die kleinen Reibereien untereinander, aber auch die geteilten Glücksgefühle. Wir leiden und feiern mit den Protagonistinnen mit. Schöner als das Schauen eines guten Velofilms ist nur das Selber-(Velo-)Erfahren.

Cicliste per Caso – Grizzly tour

Italien 2020

Regie: Silvia Gottardi
Drehbuch: Silvia Gottardi
Protagonistinnen: Silvia Gottardi, Linda Ronzoni, Simona Pezzano, Ramona Linzola
Kamera: Ramona Linzola, Silvia Gottardi
Montage: Jacopo Fantastichini
Bemerkungen: in italienischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Als Streaming auf Netflix.

Website und Blog der Protagonistinnen: www.ciclistepercaso.com