Nachhaltigkeit: Krux Zukunft

«Nachhaltigkeit» ist in aller Munde. Was aber meint dieser abstrakte Begriff genau? Und was bedeutet er für die Velobranche? Das erste Printmagazin von Cyclinfo nach neuem Konzept geht diesen Fragen nach.

Dominic Redli, Chefredaktor (redli@cyclinfo.ch)
Hintergrund, 02.02.2022

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Das heutige Modewort «Nachhaltigkeit» wurde ursprünglich von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der UNO 1987 definiert. Indes beschreibt der Begriff Handlungen, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigen, ohne die Zustände zukünftiger Generationen zu beeinträchtigen. In anderen Worten: Bei allem, was man tut, sollte überlegt sein, ob die Welt dadurch Schaden nimmt, in der unsere (Gross-)Kinder leben werden.

Vor diesem Hintergrund wird auch der weitreichende Anspruch des Konzepts «Nachhaltigkeit» deutlich: Um diesem gerecht zu werden, gilt es, die Vernetzung von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Vorgängen zu berücksichtigten. Damit bringt «Nachhaltigkeit» auch zum Ausdruck, dass wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Prozesse untrennbar miteinander verbunden sind. Nachhaltiges Handeln bedingt also, den Wechselwirkungen zwischen den drei Bereichen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft gleichsam Rechnung zu tragen.

Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom «Drei-Säulen-Prinzip». Nachhaltigkeit ist also mehr als Umweltschutz. Denn für die Befriedigung unserer Bedürfnisse benötigen wir Menschen auch wirtschaftliches Wohlergehen und eine solidarische Gesellschaft.

«Nachhaltigkeit» bringt auch zum Ausdruck, dass wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Prozesse verbunden sind.

Die Auswirkungen des heutigen Handelns für künftige Generationen abzuschätzen, ist eine grosse Herausforderung, aber nötig, damit diese ihre Bedürfnisse auch stillen können. Klar ist aber: Um das soweit wie möglich zu gewährleisten, ist ein Strukturwandel im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nötig. Mit dem Ziel, den heute überschwänglichen Umwelt- und Ressourcenverbrauch auf ein dauerhaft tragbares Niveau zu senken, ohne die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und den sozialen Zusammenhalt aufs Spiel zu setzen. Das ist die Krux.

Avantgarde: Villiger und Greenpeace

Was bedeutet das nun für die Velobranche? Wie wird sie nachhaltiger? Und was heisst das konkret für Fahrräder und ihre Herstellung? Bei Villiger setzte man sich mit diesen Fragen bereits in den 1990er- Jahren auseinander. Gemeinsam mit Greenpeace startete unter der Federführung des ehemaligen Geschäftsführers vom Verbund Service und Fahrrad, Albert Herresthal, ein entsprechendes Velo-Projekt. Für sein «Greenpeace»-Modell setzte sich Villiger bereits in der Planungsphase Leitlinien, um bei der Herstellung und Nutzung dem Prinzip «Nachhaltigkeit» gerecht zu werden.

Damit setzte diese avantgardistische Herangehensweise Massstäbe, die noch immer gelten. Bezogen auf das Fahrrad und seine Bestandteile sind das eine umwelt- und sozialverträgliche Herstellung, Langlebigkeit, Reparierbarkeit, Wartungsarmut und Wiederverwertungsfähigkeit: «Wir realisierten sogar ein Recyclingsystem, um das Velo am Ende seiner Lebensdauer in seine Bestandteile zu zerlegen und es soweit wie möglich in den Materialkreislauf zurückzuführen», so der damals projektverantwortliche Herresthal.

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Das Villiger Modell «Greenpeace», 1997 beworben in Velojournal. (Bild: Velomedien)

Überdies setzte Villiger auf eine europäische Fertigung sowie die Montage in der Schweiz mit – soweit vorhanden – in Europa fabrizierten Komponenten. Mit einer lösungsmittelfreien Pulverbeschichtung anstatt einer Nasslackierung sollte die Umweltverträglichkeit des Fahrrads verbessert und gleichzeitig die Schlagfestigkeit und Korrosionsbeständigkeit des Finishs erhöht werden. Zudem fokussierte man darauf, keinerlei PVC-haltige oder mit FCKW-geschäumte Kunststoffe zu verbauen. Obendrauf versprach Villiger für das «Greenpeace»-Velo eine zehnjährige Ersatzteilgarantie – auch für Kleinteile –, um nicht komplette Komponenten tauschen zu müssen.

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Oft bedeuten nicht mehr verfügbare Ersatzteile das frühzeitige Betriebsende von Fahrrädern. Die EU bekämpft kurze Produktlebenszyklen zunehmend und verpflichtet Hersteller per Gesetz, für Ersatzteile bis zu zehn Jahre nach Kauf lieferfähig zu sein. (Bild: Eric Crawford)

Aber das Projekt war seiner Zeit voraus: Es scheiterte nach nur wenigen Jahren; hauptsächlich an der geringen Nachfrage des Marktes und den hohen Kosten. Dies zeigt, wie sehr Ökologie und Wirtschaftlichkeit in einem Zielkonflikt liegen können. Und genau da setzt das Prinzip «Nachhaltigkeit» an.

Problem: Globalisierung

Will die Velobranche nachhaltiger werden, muss sie sich heute also das Gleiche fragen, wie es Villiger damals getan hat: Wie hat eine soziale und umweltverträgliche Fertigung auszusehen? Welche Materialen sind nach diesen Gesichtspunkten für welche Produkte sinnvoll – und vertretbar? Wie kann eine möglichst lange Nutzung erreicht werden? Wie lassen sich weite Transportwege vermeiden? Wie schaffen Verpackungen den Spagat zwischen Ökologie und Ökonomie? Wie sind geschlossene Materialkreisläufe möglich? Und so weiter.

Mit diesen grundlegen Fragen beschäftigen sich heute aber noch die wenigsten Hersteller in der verkaufsgetriebenen Velobranche. Das Resultat sind häufig Produkte mit kurzen Lebenszyklen, die sich schlecht wiederverwerten lassen sowie eine intransparente Herstellung.

Der weg ist noch weit

Im Streben nach wirtschaftlicher Effizienz hat sich die Branche gar ein strukturelles Problem geschaffen: Um Kosten zu senken, haben vor allem Volumenhersteller ihre Produktion weitgehend in Niedriglohnländer ausgelagert und die globale Arbeitsteilung stark vorangetrieben.

So gab etwa die europäische Fahrradbranche in den 1990er-Jahren einen Grossteil der heimischen Stahlrahmenproduktion zugunsten von günstigeren Alurahmenimporten aus Fernost auf. Dafür nahm sie einerseits lange Transportwege in Kauf und gab andererseits die vollständige Kontrolle über die Arbeitsbedingungen aus der Hand. Das wird für nun in einer zunehmend vom Nachhaltigkeitsprinzip geprägten Welt zum Bumerang. Sowohl hinsichtlich der verursachten Umweltkosten, als auch in Bezug auf die soziale Verantwortung.

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Das Drei-Säulen-Prinzip beinhaltet auch die Evaluation der Arbeitsbedingungen - und das über die gesamte Herstellungskette. (Bild: Flyer)

Moderne Velos sind oft typische Produkte der Globalisierung, bestehend aus Bauteilen von verschiedenen Zulieferern aus aller Herren Ländern. Und noch wissen die allerwenigsten Hersteller – über die gesamte Lieferkette gesehen – im Detail darüber Bescheid, wieviel CO2 sie ausstossen, was mit Abwasser und Produktionsabfällen passiert, woher Rohstoffe oder Strom kommen und ob Arbeiter fair entlöhnt und menschenwürdig behandelt werden. Das zu ändern ist Voraussetzung für eine nachhaltige Zukunft der Branche. Der Weg dorthin ist für alle aufwendig – und für das Gros noch weit.


Goldstandard: Cradle to Cradle

Rein wirtschaftlich betrachtet werden Velos heute effizient produziert. Hinsichtlich Umweltverträglichkeit sieht die Sache aber anders aus. Und: Am Ende seiner Lebensdauer bleibt das Fahrrad in der Regel als schwer wiederverwertbares Produkt zurück. Dafür sorgen seine Komplexität sowie die aus vielen verschiedenen Materialien gefertigten Bestandteile.

Zur Veranschaulichung: Nur schon in einem «X0»-Schaltwerk von Sram stecken deren acht. Um die Rohstoffe komplett voneinander zu trennen, benötigen auch Geübte eine gute Viertelstunde. So ist effizientes Recycling kaum möglich und ein geschlossener Materialkreislauf rückt in weite Ferne. Das will der «Cradle-to-Cradle»-Ansatz ändern. Das Ziel: komplett kreislauffähige Produkte herzustellen, um Ressourcen zu sparen. Entwickelt wurde dieses Prinzip von der EPEA (Environmental Protection Encouragement Agency) und ihrem Gründer Michael Braungart, seines Zeichens Professor für Chemie und Verfahrenstechnik (hier im Interview).

Radikales Kreislaufdenken

Im Unterschied zum konventionellen Recycling zielt das Cradle-to-Cradle-Prinzip darauf ab, die Qualität der Rohstoffe über mehrere Produktlebenszyklen zu erhalten. Zudem werden für die Herstellung ausschliesslich «als sicher bewertete Chemikalien» und erneuerbare Energie eingesetzt. Um das zu ermöglichen, gibt der Ansatz ganzheitlich vor, wie das Produktionsverfahren, der Gebrauch und die Wiederverwertung eines Produktes gestaltet sein müssen.

Im Idealfall entstehen weder Abfall noch Umweltkosten, ohne dass die Wirtschaftlichkeit leidet.

So entstehen laut EPEA im Idealfall weder Abfall noch Umweltkosten, ohne dass die Wirtschaftlichkeit leidet. Das soll durch ein konsequent in Kreisläufen gedachtes Produktdesign erreicht werden, wobei der Cradle-to-Cradle-Ansatz zwei Typen unterscheidet: Zum einen ist das der biologische Kreislauf für Verschleissgüter, deren Bestandteile beim Verbrauch in die Umwelt gelangen, wie das etwa bei Fahrradreifen der Fall ist.

Bei diesen sieht der Ansatz die konsequente Verwendung von Materialien vor, die von der Natur komplett zu biologischen Nährstoffen zersetzt werden. Zum anderen zielt der technische Kreislauf für Gebrauchsgüter – wie beispielsweise Velorahmen – darauf ab, nach Erfüllung seiner Funktion sortenrein zu zerlegen und verlustfrei für die Produktion neuer Gebrauchsgüter zu verwenden.

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Fahrradrahmen etwa könnten unter bestimmten Voraussetzungen in technischen Kreisläufen kursieren. So würde Rahmenmaterial verlustfrei recycelt und zu einem neuen Produkt verarbeitet werden. (Grafik: tnt-graphics)

Ansatz schafft Klarheit

Einerseits schaffe dieser Ansatz für die Hersteller Transparenz bezüglich Risiko-, Einkaufs- und Prozessmanagement, andererseits ermögliche er die Berechnung der Kosten ihres Schaffens für Wirtschaft, Umwelt sowie die Gesellschaft, so EPEA. Doch ob sich diese Idee wirklich so radikal umsetzen lässt, darüber herrscht bei den Kritikern Skepsis. Zu kostenintensiv und nicht für alle Produkte umsetzbar lauten die Zweifel, die immer wieder genannt werden. Trotzdem findet Cradle to Cradle in der Indus­trie zahlreiche Partner, die sich an der Umsetzung versuchen. Jüngst auch in der Fahrradbranche.

(Aus Cyclinfo Magazin 1/2022 zum Thema «Nachhaltigkeit».)

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