Mit Abbiegeassistenten gegen den toten Winkel

Seit Juli 2022 müssen europaweit alle neuen Lkw-Typen über Abbiegeassistenten zum Schutz von Velofahrenden verfügen. Trotzdem werden viele Lastwagen weiterhin ohne sicherheitsrelevante Systeme unterwegs sein.

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News, 12.07.2022

Der Zweiradverkehr hat ein besonders hohes Unfallrisiko: Velo- und Motorradfahrende haben keine Knautschzone und werden – etwa, wenn sie sich im toten Winkel befinden – leicht übersehen.

Für die Jahre 2017 bis 2021 sind in der Unfallstatistik des Bundesamtes für Strassen Astra insgesamt 39 Rechtsabbiegeunfälle zwischen einem Nutzfahrzeug und einem Fahrrad (inkl. E-Bike) erfasst, mit dreizehn Schwerverletzten und fünf Todesopfern. Im Durchschnitt ergibt das pro Jahr acht Rechtsabbiegeunfälle, davon die Hälfte schwer.

Fahrassistenzsysteme können hier – wenngleich man sich ihrer Grenzen bewusst sein muss – einen wichtigen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten.

Praktikable Fahrassistenzsysteme

Sogenannte Abbiegeassistenten, das Bundesamt für Strassen Astra nennt sie Totwinkelassistenten, warnen vor dem Abbiegen vor Kollisionen zwischen Radfahrenden und schweren Motorfahrzeugen. Die Systeme befreien den Fahrer oder die Fahrerin nicht von ihrer Verantwortung, sondern sind dazu da, ihr Sichtfeld zu erweitern.

Praxisversuche des TCS Schweiz mit zwei verschiedenen Modellen zeigen: Es gibt eine immer grössere Auswahl an Systemen, und sie sind praktikabel. Trotzdem sind sie in Europa noch nicht verbreitet.

Safety Regulation

Und das, obwohl eine Verordnung der Europäischen Union, die sogenannte General Safety Regulation, ins Jahr 2019 zurückreicht. Sie schreibt unter anderem Zusatzausstattungen für Motorisierte zum Schutz vulnerabler Verkehrsteilnehmender vor. Doch sie tritt schleppend in Kraft.

Ein wichtiger Schritt erfolgte im Juli 2022: Ab diesem Monat müssen alle in der EU neu zugelassenen Fahrzeugtypen mit bestimmten Fahrassistenzsystemen ausgestattet sein. Ab Juli 2024 gilt die Anforderung für sämtliche Neuzulassungen im EU-Raum.

Abbiegeassistenten sind damit ab sofort obligatorisch für alle neuen Bus- und Lastwagentypen. Eine Pflicht zur Nachrüstung älterer Fahrzeuge ist allerdings nicht vorgesehen.

Die Schweiz zieht mit

Darüber bestimmt hat die EU, Entscheidungsträgerin über die erforderliche Ausrüstung von Fahrzeugen. Sie nimmt, sofern möglich, jeweils Bezug auf die in den Gremien der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) entwickelten UN-Reglemente.

Die getroffenen Entscheidungen gelten für alle Mitgliedstaaten und werden häufig von der Schweiz auf freiwilliger Grundlage übernommen. Das ist laut der Homepage des Astra auch bei dieser Verordnung der Fall. Die Vernehmlassung dazu ist im Gange.  Doch verzichtet auch das Astra auf einen Vernehmlassungsvorschlag betreffend Nachrüstpflicht.

Nachrüstungspflicht

Thomas Rohrbach erklärt die Entscheidung des Astra auf Anfrage von Velojournal und schreibt: «Eine rechtlich verpflichtenden Nachrüstpflicht müsste auf dem Weg der ordentlichen Rechtsetzung eingeführt werden. Das Rechtsetzungsverfahren mit Vernehmlassung würde insgesamt rund zwei Jahre dauern. Schliesslich müsste eine angemessene Übergangsfrist bis zur Umsetzung gewährt werden.» Das Astra folgerte aus der Überlegung, dass bis zum Einsatz der Nachrüstpflicht bereits ein «beträchtlicher Teil» der Lastwagenflotte ersetzt sein würde. Die Einsatzdauer eines schweren Sachentransportfahrzeugs beträgt durchschnittlich sieben bis acht Jahre.

Mehr Tempo bei der Umsetzung

In anderen Worten: Ob mit oder ohne Nachrüstpflicht – es dauere sowieso noch einige Jahre, bis alle Lkw mit wirksamen Abbiegeassistenten ausgestattet seien.  

Genau das will der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC), der mit über 200'000 Mitgliedern die grösste Interessenvertretung der Radfahrerinnen und Radfahrer in Deutschland ist, nicht hinnehmen. Er fordert deshalb die Einführung einer Pflicht zur Nachrüstung mit Abbiegeassistenten auf schnellstem Weg. «Das System der Freiwilligkeit funktioniert im Bereich der Verkehrssicherheit nicht», sagt ADFC-Bundesgeschäftsführerin Ann-Kathrin Schneider. Ohne eine Nachrüstungspflicht würden über 90 Prozent der Bestands-Lkw in Deutschland noch Jahre ohne die Zusatzausstattung unterwegs sein, schreibt der Verein in ihrer Medienmitteilung, und Radfahrende wären weiterhin einem hohen Risiko ausgesetzt.

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