Analyse zum Bergamont-Verkauf: Ungleich verteilte Zukunftsperspektiven

Mit dem Verkauf von Bergamont werden einige Karten im Markt neu verteilt. Während sich für die übernommene Marke und den neuen Inhaber längerfristig ein grosses Potenzial in der Partnerschaft abzeichnet, ist nicht klar, wie BMC von diesem Handel profitiert.

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Branche, 26.06.2015

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Für die meisten Brancheninsider kommt der Verkauf von Bergamont überraschend. Zwar gab es schon kurz nach dem letzten Führungswechsel in der BMC-Gruppe erstmals Andeutungen, dass die Marke zu haben sei und ab Ende Mai verdichteten sich die Hinweise, dass ein Käufer gefunden ist. Doch selbst wer von diesen Vorankündigungen gehört hatte, musste ihnen nicht zwingend Glauben schenken. Es gab in der Vergangenheit immer wieder reichlich Nachschub aus der Gerüchteküche von BMC, der sich letztendlich nicht bewahrheitet hatte. Wenig andere Interessenten
Doch auch wer an einen baldigen Handwechsel von Bergamont glaubte, hatte Scott kaum als neuer Inhaber zuoberst auf der Liste. Auf die Frage, wer Bergamont übernehmen sollte, hätten viele wohl darauf spekuliert, dass es einer der grossen internationalen Velokonzerne sein könnte. Bei näherer Betrachtung rücken die meisten davon als Käufer aber ausser Reichweite: Die Einen von Ihnen haben bereits selbst ähnlich aufgestellte Marken im Angebot (Pon Gruppe mit Focus und Kalkhoff, Accell mit Ghost und Haibike). Andere versuchen gerade, ihr Markenportfolio zu bereinigen (Trek/Villiger, Accell/Hercules) oder sie kämpfen mit den Folgen der Marktflaute oder des harten Wettbewerbs der letzten Jahre und haben keine Ressourcen für eine zusätzliche Marke (z.B. Cannondale Group, Cycleurope, Mifa). Gute Argumente für die Übernahme
Mit einem genaueren Blick auf die Positionierung von Scott erklärt sich, was sich die Westschweizer an Bergamont attraktiv finden: Die Marke ist im deutschen Heimmarkt stark im traditionellen Fahrrad-Fachhandel verankert und verfügt über ein Netz von mehreren hundert Verkaufsstellen. Scott hingegen ist stärker bei Sporthändlern mit Fahrradangebot und im Fachmarkt Karstatt Sports vertreten. Mit der Übernahme sichert sich Scott den Zugang zu zusätzlichen Absatzquellen im grossen, aber hart umkämpften deutschen Markt. Weiter holt sich Scott Kompetenz in Segmenten ins Haus, die bisher mit mässigem Erfolg selbst bearbeitet wurden. Auch wenn Bergamont seine Ursprünge beim Mountainbike hat - einen beachtlichen Teil des Umsatzes erzielen die Hamburger mit City- und Trekkingbikes sowie Elektrovelos. Zwar hat Scott mit der Sub-Linie unterdessen auch schicke Urbanbikes und Elektrovelos im Angebot, doch Bergamont deckt das Segment seit vielen Jahren breiter und tiefer ab - Beispielsweise mit nabengeschalteten Tiefeinsteigern, die zwar weniger exklusiv erscheinen, dafür aber solide ausgestattet und für eine breite Kundschaft attraktiv sind. Zudem spielt Bergamont seine Stärken in einem anderen Preissegment aus als Scott - auch hier können sich die beiden Marken künftig ergänzen. Zwang zur Grösse
Auch ins Gewicht fallen dürfte, dass Scott sich mit Bergamont in eine stärkere Position gegenüber den Zulieferern in Fernost bringt. Dort zählt je länger, je mehr nur noch das Volumen, und mit den rund 100'000 Velos, die Bergamont jährlich absetzt, erhält Scott mehr Gewicht in den Verhandlungen. Zudem kann Scott eigene Entwicklungen auf die neue Tochtermarke übertragen und damit die Kosten auf höhere Stückzahlen verteilen. Auch das ist ein Argument, das im heutigen Markt mit den rasch wechselnden technischen Innovationen an Bedeutung gewinnt. Scott hat diesen Druck zum Wachstum erkannt. Darum wurde vor einem halben Jahr auch der finanzkräftige koreanische Sportartikelriese Youngone als Teilhaber ins Haus geholt. Gut möglich, dass damals schon an die Übernahme von Bergamont gedacht wurde. Davon kann auch Bergamont profitieren: Die Marke hat zwar vielfach ein glückliches Händchen für attraktive Modelle in den sportlichen Segmenten bewiesen, doch dem Trend zu immer mehr eigenständigen Fahrwerken bei Mountainbikes und Rennrädern konnte die Marke bisher nicht folgen. Hier hat Scott Knowhow, und wenn die Westschweizer dieses mit der neuen deutschen Tochter teilen, kann es relativ einfach für massentaugliche Modelle weiterverwendet werden, ohne dass Scott einen Mitbewerber begünstigt und das Image der Kernmarke verwässert. Getrennt, was nicht zusammepasste
Soweit lassen sich die Chancen aus dem Verkauf von Bergamont beschreiben. Wo BMC von Deal profitiert, lässt sich weniger genau ermitteln. Der bisherige Inhaber gibt bekannt, dass er sich künftig aufs Kerngeschäft im sportlichen Segement konzentrieren will, und sich darum von Bergamont trennt. Wer den Werdegang der Velofirma von Andy Rihs kennt, glaubt kaum, dass das die ganze Wahrheit ist. Wo soll der Vorteil sein, wenn man einen Firmenzweig abstösst, der während Jahren als einziger im Konzern kostendeckend arbeitete und das Wachstum erzeugte, das der Inhaber Andy Rihs anscheinend so sehr mag? Man kann als gesichert betrachten, dass der Schweizer Unternehmer und die Hamburger Tochterfirma miteinander nie richtig warm wurden. Auf der einen Seite steht der emotionale Patron, dem Prestige und Rennerfolge oft wichtiger sind als kurzfristige Rentabilität, auf der andern die kühlen, scharf kalkulierenden Kaufleute aus Norddeutschland. Der aktuelle Konzernchef Erwin Steinmann hat es bei der Auftrennung der drei Marken BMC, Stromer und Bergamont  auf selbständig operierende Geschäftszweige eingestanden, dass die Firmenkulturen zwischen Grenchen und Hamburg zu verschieden waren, dass diese unter einem Dach geführt werden können. Dennoch wird Bergamont der BMC-Gruppe fehlen. Die Marke brachte Geschäftsvolumen ins Haus, das kaum noch auf die verbleibenden Marken BMC und Stromer übertragen werden kann. Radikaler Wandel für BMC
Verschärft wird das dadurch, dass Stromer auch als Übernahmekandidat gehandelt wird. Offiziell heisst es, es würden Investoren gesucht, damit Andy Rihs nicht mehr den gesamten Aufbau der Marke alleine finanzieren muss. Schlägt man den Bogen nun zum Verkauf von Bergamont, lässt sich schliessen, dass der Inhaber nach der gescheiterten Nachfolgeregelung mit Thomas Binggeli seinem Velounternehmen langsam den lange reichlich sprudenlden Geldhahn zudreht. Es erscheint daher plausibel, dass der Verkaufsertrag von Bergamont kurzfristig den abnehmenden Kapitalzufluss aus dem privaten Portemonnaie des Partrons kompensieren soll. Für BMC heisst das letztendlich, dass die ehrgeizigen Expansionspläne der letzen 8 Jahre gescheitert sind. Ohne Bergamont ist die Velogruppe wieder praktisch im gleichen Segment tätig wie unter der Leitung von Andy Kessler, kurz bevor Inhaber Rihs mit seinen Holdingplänen und viel zusätzlichem Kapital auf die Vision eines globalen Velokonzerns im Stile von Specialized oder Trek zuarbeitete. Natürlich ist BMC seither auch gewachsen, und Stromer ergänzt das Sortiment nach wie vor. Doch ohne Bergamont fehlt der Grenchner Velogruppe die Grösse, welche Industrie-Insider längerfristig als notwendig betrachten, um als technisch innovativer Hersteller eigenständig überleben zu können. Im globalen Velogeschäft wird ein Unternehmen mit weniger als 100'000 Einheiten heute als zu klein eingeschätzt. Keine Erfolgsgarantie
Bleibt zuletzt die Frage: Wird Bergamont unter dem Dach des neuen Inhabers gleich erfolgreich den Markt bearbeiten können wie bisher bei BMC? Diesen Beweis muss Scott längerfristig noch erbringen. Wahrscheinlich sind sich die Firmenkulturen der beiden Marken ähnlicher, doch Unterschiede wird es auch zwischen Givisiez und Hamburg geben. Zudem gibt es in der Veloindustrie nicht viele Beispiele von Velokonzernen, die neben einer starken Hauptmarke eine zweite Marke langfristig genug sorgfältig pflegen konnten. Sogar Scott hat damit Erfahrung - In den Neunziger Jahren wurde der frühere amerikanische Riese Schwinn übernommen und nach einigen Jahren wieder abgestossen. Erfolgreich waren zuletzt hauptsächlich Konzerne mit mehreren, ähnlich starken Marken oder solche, die den einzelnen Marken viele Freiheiten gewährten und die Synergien hauptsächlich im Hintergrund nutzten. Die ersten Ankündigungen zur Übernahme deuten darauf hin, dass Scott für Bergamont den letztgenannten Weg einschlagen will. Die kommenden Saisons werden zeigen, wie gut diese Strategie funktioniert.

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