Plan Putina

Velofahren ist etwas, was sich weit über die muskuläre Tätigkeit hinaus auch auf den Geist und die Seele auswirkt sowie alle Sinne schärft. Von solchen Angelegenheiten und viel mehr handelt Christoph Brummes Buch.

Dres Balmer, Autor

Dres Balmer, Autor (dres.balmer@bluewin.ch)
Kultur, 31.03.2022

Christoph Brummes Liebe zum Velofahren kennt viele Facetten, die er feinsinnig und witzig darstellt. Da sind Beispiele: Wenn der Radler durch den Wald fährt und sich fürchtet, dann singt oder pfeift er, und die Furcht ist weg. Während des Pedalens kann er nicht rauchen, umso besser schmeckt die Zigarette aber danach, während der Pause. Beim Radeln vervielfachen sich die Fresslust und der Biergenuss. Velofahren verfeinert das Körpergefühl, man spürt, wie man fitter wird. Es kann einem bewusst machen, wie viel Zeit man mit dem Geldverdienen verplempert, Radeln wirkt gegen den Tunnelblick bei der Arbeit und definiert die Langeweile neu. Das sind nur wenige Muster aus Brummes zyklistischem Katechismus.

Ost-Klischees abbauen

Etwa ein Drittel des Buches handelt von Radreisen in den Osten, von Berlin nach Polen, in die Ukraine und in die Russische Föderation, und da macht der Mitteleuropäer Brumme erstaunliche Entdeckungen.  Die beginnen mit Grenzerfahrungen, im Wortsinn, am Grenzübergang von Russland in die Ukraine. Obwohl die Papiere in Ordnung sind, fragt der umständliche russische Grenzer seinen Chef am Telefon, ob er den Radler über die Grenze entlassen kann. Als der die ukrainische Zollstelle erreicht, laden ihn die Zöllner ein zum Frühstück samt Wodka.

Er erlebt auf seinen Reisen Sympathie, Hilfsbereitschaft, Grosszügigkeit, Sicherheit. Jeden Tag baut er mindestens ein Ost-Klischee ab, und der Leser mit ihm. Er zeigt mittels handfester Erlebnisse und Begegnungen, dass der bei uns gängige Begriff von Europa viel zu eng ist. Wer sich eine handelsübliche Landkarte anschaut, stellt fest, dass Europa knapp hinter Moskau zu Ende ist, dabei reicht der Kontinent noch tausendvierhundert Kilometer weiter nach Osten bis zum Ural. Europas Osten ist für uns Westler auf der Karte und im Kopf ein weisser Fleck, und niemand weiss, dass Russisch die meistgesprochene Sprache des Kontinents ist. Brummes Beschreibung des Radler-Alltags wird so zum Handbuch der osteuropäischen Kulturen.

Er erlebt auf seinen Reisen Sympathie, Hilfsbereitschaft, Grosszügigkeit, Sicherheit. Jeden Tag baut er mindestens ein Ost-Klischee ab, und der Leser mit ihm.

Der Berichterstatter gerät manchmal in bizarre Gesellschaften, etwa im Restaurant namens «Bruderschaft» in Saratow an der Wolga, das auf der Speisekarte «Eva-Braun-Salat mit Führersosse», «Huhn à la Luftwaffe» oder «Steak Dicke Berta» anpreist. Da begrüsst ihn ein Mann mit «Heil Hitler» und lobt dann das deutsche Soldatentum über den grünen Klee. «Als Aleksandr in die Runde rief, deutsche Marschmusik sei die beste der Welt, wollte ich kotzen», schreibt Brumme. Als ein Iwan ruft: «Wir müssen von Deutschen regiert werden! Wir sind Sklaven, wir brauchen die Knute!», findet Brumme, er verlasse diese «Gesellschaft von Idioten» besser.

Brumme harrt aus

Liest man dieses Buch aus ruhigeren Zeiten jetzt, im Kriegsfrühling 2022, stockt einem schon nur bei den Namen der Städte, die jetzt bombardiert werden, das Herz. Kurze Zeit ist der Autor unterwegs mit den zwei lustigen Mountainbikern Igor und Roman, die ihm auch russische Slang-Ausdrücke beibringen. Brumme ist noch nicht aufgefallen, «dass die hohle politische Phrase ‹Plan Putina›, der Plan Putins, gleichzeitig auch ‹Putins Joint› heisst».
Christoph Brumme harrt Ende  März 2022 immer noch in der Ukraine aus, um von dort zum Beispiel in der «NZZ am Sonntag» zu berichten. Hoffentlich ist der Albtraum von Putins Plan bald überstanden.

«111 Gründe, das Radfahren zu lieben», Christoph Brumme, Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2017, ca. 16.90 Franken