Workation per Velo

Gunnar Fehlau hat seinen ganzen Hausstand aufs E-Cargobike verladen und ist 2023 nomadisch auf zwei Rädern unterwegs. Ein Jahr lang finden Arbeiten, Alltag und Abenteuer parallel statt. «Workpacking» nennt er das.

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Gunnar Fehlau
News, 10.05.2023

Nach einer Stippvisite in Lörrach steuere ich an einem Januarsamstag mein vollbeladenes E-Lastenvelo über die deutsch-schweizerische Grenze. 14 Tage nach dem Start in Göttingen nähere ich mich dem ersten beruflichen Pflichttermin meiner Tour, der Velohändler-Schulung Infotech in Nottwil.

Die Einreise in die Schweiz ist wenig spektakulär, was nicht für Giovanni gilt, der mich kurzerhand zu sich und seiner Frau Conny eingeladen hat. Bis wir uns in Lörrach trafen, kannten wir uns nur über Facebook.

Er ist Administrator einer Fangruppe für Titan­bikes und ich dort Mitglied. Als er von meiner Fahrt und dem Abstecher in die Schweiz hörte, lud er mich ein. Ungleicher kann keine Radpaarung sein: Hier das E-Cargobike mit einem Systemgewicht von nahezu 200 Kilo, dort das leichte Titan-Gravelbike mit ebenso schlankem Fahrer.

Ein anregendes Gespräch lässt uns die Unterschiede schnell vergessen und sorgt dafür, dass wir beim Abendessen über «Gott und die Welt» reden, aber nicht mehr über Velos.

Die Theorie des «Workpacking»

«Workpacking» ist für mich die Mischung aus «Workation» und «Bikepacking». Die Idee ist es, Arbeit, Alltag und Abenteuer nicht hintereinander zu planen, sondern in eine Gleichzeitigkeit zu bringen.

Das Reise- und Arbeitsformat versöhnt die tief im Menschen verwurzelte nomadische Sehnsucht mit der digitalen Arbeitswelt. Statt die Woche über «Vollgas» zu arbeiten, um sich am Wochenende unter Druck per Mikroabenteuer erholen zu müssen, findet alles parallel statt.

Dafür bedarf es einer guten Planung, damit berufliche Pflichttermine, private Verabredungen und die Überbrückungsetappen gut verzahnt ineinandergreifen. Der Tag beginnt im Schlafsack (am besten mit einem frischen Kaffee).

Nachdem das Zelt und die Utensilien eingepackt sind, wird ein paar Meter geradelt und an geeigneter Stelle (trocken, warm und mit Internetzugang) gearbeitet und anschliessend weitergeradelt. Der Tag klingt am besten mit Lagerfeuer an einem legalen Zeltplatz fernab urbaner Bebauung aus.

Der Plan sieht vor, an sieben Tagen in der Woche jeweils rund 50 Kilometer zu pedalieren und an sechs Tagen etwa sechs Stunden zu arbeiten.

Die grobe Route wird durch meine Pflichttermine in der Fahrradsaison definiert, wie etwa die Infotech in der Schweiz, die Velomesse Eurobike in Frankfurt oder die Veloberlin.

Die Praxis des «Workpacking»

Portale wie ADFC-Dachgeber oder 1nitetent.com helfen bei der Suche nach einem legalen Platz für mein Zelt. Komoot und Naviki weisen mir den Weg im Detail.

Die Taktung 7 × 50 Kilometer und 6 × 6 Stunden habe ich schon in der ersten Woche über den Haufen geworfen. Bis heute hat sich kein fester Tagesrhythmus eingestellt, die einzige Konstante ist das tägliche Zoom-Meeting mit meinem Team um 11.30 Uhr.

In den kalten Wintermonaten bin ich am liebsten erst danach losgefahren, weil es dann wärmer – oder besser: weniger kalt – war. Im Sommer könnte es genau umgekehrt sein, um der Sommerhitze auf dem Rad zu entfliehen.

Ich bin gespannt, wie Wetter, Laune und Arbeitspensum sich ausbalancieren. Es dauerte einige Wochen, bis ich mich an das schwere Gefährt und sein Fahrverhalten gewöhnt hatte. Auch verschlangen der Auf- und Abbau des Lagers und das Ein- und Auspacken der Ausrüstung anfangs sehr viel Zeit.

Transferkälte

Der morgendliche «Lagerabbau» verleidet mir die ersten Wochen der Fahrt. Bei Temperaturen von bis zu -10°C gehört viel Überwindung dazu, den kuscheligen Schlafsack zu verlassen und dann in einem Rennen gegen die Kälte alle Dinge zusammenzupacken, bevor sich auf dem Rad durch Bewegung wieder Behaglichkeit einstellt.

Allzu oft gelingt mir das mehr schlecht als recht: Von Hochdorf bis Zürich fror ich trotz beherzter Fahrt – fast ohne E-Unterstützung – fast durchgängig. An dem Tag beschloss ich, den langen Transferzeiten zwischen Schlafsack und Sattel den Kampf anzusagen und stellte Packordnung, Arbeitsschritte und Ausrüstung um.

Wenig später wechselte ich vom Tipi in ein Kuppelzelt, das mir nicht nur acht Kilogramm Gewicht, sondern vor allem gut 20 Minuten im Transfer spart.

Die Sache mit dem Warum

In Frost- oder besser Frustmomenten frage ich mich natürlich auch nach dem Warum. Der Hintergrund der «Workpacking»-Tour ist (m)ein Jubiläumsjahr: Meine Firma Pressedienst-Fahrrad feiert im Juni ihr 20-Jahr-Jubiläum, und als 1973er-Jahrgang werde ich 50 Jahre alt.

«Mein radelnder Workpacking-Ansatz hinterfragt die Alleinstellung des Autos als individuelles Vehikel der digitalen Nomaden oder des Van-Lifestyles.»

Da ist es nur angemessen, dieses Jahr auf dem Velo zu verbringen, finde ich. Nachdem auch unser letztgeborener Sohn uns beschied, im Oktober 2022 zum Studium in eine andere Stadt zu ziehen, eröffneten sich neue Perspektiven.

Auch stiessen mir in meiner Filterblase die vielen Vanlife-Aktivitäten unangenehm auf. Beim Betrachten der Fotos dachte ich stets: «Ist ja cool, aber ich möchte Rad und nicht Auto fahren.» Mein radelnder Workpacking-Ansatz hinterfragt die Alleinstellung des Autos als individuelles Vehikel der digitalen Nomaden oder des Van-Lifestyles und erschliesst dem Fahrrad so die vielleicht letzte Bastion des Autos.

Die richtige Ausrüstung

Fürs Abenteuer sorgen Zelt, Isomatte, zwei Schlafsäcke und eine Gaskocherausrüstung. Die Lagerbekleidung entspricht der eines Winter-Overnighters mit ein paar zusätzlichen Socken, Shirts und Unterhosen.

Der Waschbeutel deckt von der Wintercreme über die Apotheke bis hin zur alltäglichen Hygiene alles ab, allerdings in grösseren Gebinden, damit ich nicht alle drei Tage Nachschub kaufen muss.

Auch die Ausrüstung zum Radfahren ist komplett aus dem Bestand fürs Radfahren bis ca. -15°C rekrutiert. Dazu kommt ein legerer Kleidungssatz für Geschäftstermine, der zudem lagerfeuertauglich ist.

Das kniffligste Thema ist die Arbeitsausrüstung. Vom Drei-Monitor-Schreibtisch mit Dockingstation und stationärem Telefon habe ich radikal reduziert: Ich habe ein gutes Headset, das Telefonieren auch während der Fahrt ermöglicht, einen 16-Zoll-Laptop, eine Maus und eine externe Festplatte für Datensicherungen, dazu ein Smartphone sowie eine Kamera mit Stativ und Funkauslöser.

Das ist alles. Insgesamt sind das etwa 40 Kilogramm Gepäck, dazu kommen vier Akkus à 630 Wh. Verpackt habe ich das Ganze in sechs Packtaschen und einem Satz Gepäckträgertaschen.

Ohne geht nichts: Stromversorgung

Dank der vier Akkus habe ich eine Reichweite von über 200 Kilometern, und für die Stromversorgung von Rechner, Handy, Kamera und Co. bin ich in der privilegierten Position, auf einen Prototyp aus der Vorentwicklungsabteilung von Brose zurückgreifen zu können.

Der linksseitig montierte Akku versorgt USB-A, USB-C und 12V-Autosteckdose mit entsprechendem Strom, so kann ich jederzeit jedes Gerät laden. E-Bike-Akkus, die im Fahrbetrieb kaum mehr zwei Kilometer Reichweite aufweisen, laden indes das Handy noch viele Male auf.

Dennoch führt kein Weg an Steckdosen vorbei: Sind die vier Akkus leer, fahre ich mit meinen zwei Ladegeräten Steckdosen an und bin zu einem Pflichtstopp verdonnert.

«Diese Hilfsbereitschaft rührt mich in den jeweiligen Momenten oft zu Tränen und gibt mir im weltpolitischen Wirrwarr ein Stück weit den Glauben ans Gute im Menschen zurück.»

Was mich «Workpacking» lehrt

Arbeiten, Alltag und Abenteuer unterscheiden sich erheblich und gestalten sich anders als in den heimischen vier Wänden. Zudem treffe ich Menschen in beruflichen und privaten Kontexten und tauche für kurze Zeit in ihre Arbeits- oder Lebenswelt ein.

Und ich bewege mich auch durch die Zeit: So habe ich nach über 40 Jahren mal wieder Schokokuchen mit einer Grundschulfreundin geschlemmt, alte Abiturkameraden und Mitstudentinnen getroffen. Bei diesen Gelegenheiten bin ich auch stets dem Gunnar aus vergangenen Zeiten begegnet.

Dabei gibt es zwei Konstanten. Das Velo ist das eine, das mich seit dem vierten Lebensjahr begleitet. Das andere ist die Gastfreundlichkeit und Grosszügigkeit der Menschen. Mal lädt mich der Abikumpel zum Essen ein. Mal spendiert eine Firma beim Besuch spontan neue Ausrüstung.

Mitten auf der Schwäbischen Alb halte ich an einem Stehtisch in einer kleinen Bäckerei eine Zoom-Konferenz mit 50 Leuten. Der verwischte Hintergrund verschleiert den Kontext. Doch plötzlich reicht mir die Verkäuferin ohne jede Aufforderung eine Tasse Kaffee ins Kamerasichtfeld und wünscht allen viel Spass.

Diese Hilfsbereitschaft rührt mich in den jeweiligen Momenten oft zu Tränen und gibt mir im weltpolitischen Wirrwarr ein Stück weit den Glauben ans Gute im Menschen zurück.

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