Wo Radfahrende die Strassen erobern

Einmal pro Woche radeln in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá Zehntausende durch die Stadt. Und das bereits seit vierzig Jahren. Die Geschichte der Ciclovía.

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Paul-Jonas Hildebrandt
29.01.2020

Es ist Sonntagmorgen in Bogotá, als die Übernahme für einen kurzen Moment auf der Kippe steht. Der Fahrer eines roten Fiats lehnt sich aus dem Fenster und schimpft, denn vor ihm versperrt ein Gitter aus Metall die Strasse. Eine Menschentraube bildet sich um das Auto, die Stimmen werden lauter. Ein junger Mann steigt von seinem Velo. Auf seinem gelben Trikot prangt das Emblem der Stadt: ein schwarzer Adler. Er sagt zum Autofahrer: «Es ist Ciclovía, gleich kommen die ersten Radfahrer. Sie dürfen hier nicht mehr fahren – und Sie wissen das.» Die beiden schauen sich für wenige Sekunden an, dann dreht der Fiat um und fährt weg. Dann übernehmen die Fahrräder die Strasse.
Der Machtkampf, der nur wenige Sekunden dauert, steht für einen gesellschaftlichen Wandel, der seit mehr als vierzig Jahren die kolumbianische Hauptstadt prägt – und sie zum Vorbild für grüne Stadtentwicklung macht. Aus der ganzen Welt kommen Bürgermeister und Aktivistinnen nach Kolumbien, um zu lernen, wie sich der Konflikt «Velo gegen Auto» lösen lässt. Denn in Bogotá gelingt, was sonst nur aus Amsterdam oder Kopenhagen bekannt ist: Radfahrende werden in der Infra­struktur mitgedacht. Sie bekommen eigene Strassen, abgetrennte Radwege, Parkplätze. Der Bürgermeister von Bogotá erklärte im Sommer 2018, er wolle seine Stadt zur Welthauptstadt des Fahrrads machen.

Gegenstück zu Armut und Gewalt

Dabei sind die Voraussetzungen in Bogotá alles andere als gut. Die Stadt ist geprägt von Armut und Gewalt: 55 000 bewaffnete Überfälle wurden 2017 registriert, rund ein Drittel der Bewohner lebt von weniger als 80 Dollar im Monat. Trotzdem schafft Bogotá, woran die meisten Grossstädte noch immer scheitern. Das hängt auch mit dem Mann im gelben Tricot zusammen: Alejandro Russi, 22 Jahre alt, Student. Jeden Sonntag sperrt er mit fast 400 weiteren HelferInnen zahlreiche Hauptstrassen der Stadt für Autofahrende – die sogenannte Ciclovía. Für einige Stunden verwandeln Russi und sein Team ganze Strassenzüge in ein Fahrradparadies. Mittlerweile radeln jedes Mal Zehntausende über die gesperrten Stras­sen.
Doch die Ciclovía ist mehr als nur eine Art Sonntagsausflug. Der autofreie Sonntag ist eine äusserst erfolgreiche Lobbyveranstaltung, die Bogotá jeden Sonntag ein wenig mehr zur Fahrradhauptstadt der Welt macht. In Bogotá werden heute 10 Prozent aller Fahrten mit dem Velo erledigt. Es gibt 480 Kilometer Radwege, viele von ihnen räumlich von der Strasse getrennt. Eine Fahrradautobahn durchquert von Süden nach Norden die Stadt – und ein Velominister ist seit 2016 dafür zuständig, die Fahrradinfrastruktur stetig zu erweitern.

Der Mentor

Angestossen hat diese Entwicklung der Stadtplaner Jaime Ortiz – vor mehr als vierzig Jahren. An einem Montagabend sitzt Ortiz, ein eleganter Mann mit weis­sem Bart, in seiner Penthouse-Wohnung im Norden Bogotás. Im Wohnzimmer lehnt ein Fahrrad aus Draht an der weis­sen Wand. Ein befreundeter Künstler hat es für Ortiz entworfen. Für den 64-Jährigen ist das Fahrrad nicht nur ein Luxusgegenstand, es ist seine Mission. Mit dem Velo, glaubt er, lasse sich die Dystopie abwenden einer von Menschen ausgestorbenen Stadt, deren Strassen vor Autos überquellen. Er sagt: «Um den Widerstand der Autofahrer zu durchbrechen, haben wir ihnen in ihrem schwächsten Moment die Strasse gestohlen: am Sonntagmorgen.»
Ortiz hatte Anfang der Siebziger in Cleveland studiert. Was er in den US-Städten sah, wollte er in seiner Heimat verhindern: die Stadt als lebensfeindlichen Ort. Als er 1974 nach Bogotá zurückkehrte, begann dort erst die Entwicklung zu einer Autostadt. Gemeinsam mit zwei Freunden organisierte Ortiz die erste Ciclovía. Zuerst wurden sie belächelt. Doch der Andrang war so stark, dass nur zwei Jahre später die Ciclovía von der Regierung institutionalisiert wurde. Bis heute traute sich keine Stadtregierung, daran zu kratzen, das Velo ist Teil der Stadt-DNA.

CiclovÍa-Export

Die Tradition wird seit einigen Jahren exportiert: Es gibt Ciclovías in Guadalajara, São Paolo und Los Angeles. Ortiz sagt: «Wir haben eine Generationen von Fahrradfreunden herangezogen. Heute sitzen sie in der Politik und Wirtschaft.» Ortiz glaubt: Will man die Stadt retten, muss man zuerst die Menschen begeistern – je mehr Menschen, desto stärker die Lobby.