Der Körper denkt
Guillaume Martin (*1993) gehört zu den besten Radprofis, und er ist Doktor der Philosophie. Wie bitte? Akademiker und erfolgreicher Sportler? Diese Kombination ist selten, man denke an den Tierarzt Laurent Fignon. Spitzensportlern wird oft ein schlichter Geist nachgesagt, und Miguel Induráin sagte einmal, er beginne während der grossen Rundfahrten jeden Abend im selben Buch zu lesen, doch er schlafe immer bei Seite 4 ein.
Der Irrtum, Velofahren und Geist seien Widersprüche, hält sich hartnäckig. Zu seiner Demontage zündet Martin ein philosophisches Feuerwerk, das bei den Griechen zur Zeit der antiken Olympischen Spiele beginnt. Aus den Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles macht Martin kurzerhand Radprofis der griechischen Mannschaft. Diese drei Herren haben sich viele Gedanken gemacht zur «kalokagathía», der körperlichen und geistigen Vortrefflichkeit, die sich auf das Radfahren anwenden lässt, und so werden aus den Philosophen Velosophen. Die «kalokagathía» lebt weiter bei den Römern als «Mens sana in corpore sano», gesunder Geist in fittem Körper.
Durch das ganze Buch ist ein gewagter erzählerischer Bogen gespannt, der die Epochen überspringt und geistig verbindet.
Solche modernen Ideen wurden vor rund 2000 Jahren gedacht und gelebt. Die katholische Kirche setzt ihnen ums Jahr 400 n. Chr. ein Ende, indem sie die Olympischen Spiele und ähnliche Veranstaltungen, die sie für heidnisch hält, verbietet. Diese körperfeindliche, lustlose Stubenhockerei dauert bis Ende des 19. Jahrhunderts, und dann geht es ihr zünftig an den Kragen. Britische Protestanten fördern in Privatschulen den Turnunterricht, und 1896 finden in Athen die ersten Olympischen Spiele der Moderne statt.
Durch das ganze Buch ist ein gewagter erzählerischer Bogen gespannt, der die Epochen überspringt und geistig verbindet. Die Philosophen der Antike bereiten sich nämlich vor auf die Teilnahme an der Tour de France, zusammen mit Kollegen aus der Moderne. Martins Buch ist philosophisch vielseitig und historisch spannend; die Schilderung der 21 Etappen zum Schluss ist indes länglich geraten, und es kann einem ergehen wie Miguel Induráin.
Guillaume Martin: Sokrates auf dem Rennrad. Eine Tour de France der Philosophen. Covadonga-Verlag, Bielefeld 2021, Preis: Fr. 21.90.
Sansibar, Zagreb
Zwei Schweizer treffen sich auf Sansibar. Der eine, Fabian, landet dort halbherzig, weil er in einem Wettbewerb einen Flug auf diese Insel gewonnen hat. Der andere, Max, verbringt längere Zeit in Afrika. Er ist in ein Massaigewand gekleidet, die Einheimischen nennen ihn den «Weissen Massai». Beide Burschen stehen schräg im Leben, und das verbindet sie.
Fabian hat Liebeskummer und hat seine Stelle als Journalist aufgegeben, Max hat lange Wirtschaft studiert, weiss dann aber nicht, was er mit Ökonomie anfangen soll. Er unternimmt Irrfahrten durch die Welt. Er ist dem Alkohol und Drogen zugetan, sein Geist verwirrt sich, er vergisst alles ausser seine Witze. Mehrmals ist er in psychiatrischen Kliniken. In seinen Stammkneipen wird er oft ausfällig, beschädigt das Mobiliar oder hinterlässt andere Spuren und negative Erinnerungen bei den Wirtsleuten.
Dort elebt er rauschhaft Max’ schönste Lebenszeit nach, und diese Zeit heisst «radost».
Zwischen Max und Fabian entwickelt sich eine Freundschaft, die so weit geht, dass Fabian Max’ halb vergessene Lebensgeschichte, seine Irrfahrten rekonstruiert und aufschreibt. Eines der Kernstücke des Buches ist eine Veloreise, die Max aus der Schweiz nach Zagreb unternommen hat. Fabian hält diese Tour für wichtig, will mehr über sie erfahren, doch Max hat das meiste vergessen. Also macht sich Fabian zwölf Jahre später ebenfalls per Velo auf die Reise.
Wie für Max ist auch für Fabian das Velofahren eine ungewohnte Beschäftigung, und er folgt vom Zürichsee aus Max’ Route. Tag um Tag bekommt Fabian grössere Mühe, die Etappen seines Freundes zu schaffen, was gespenstische Visionen zeitigt: «Immer wieder begegnet er mir. Ich höre ihn schnaufen, sehe ihn neben mir auftauchen und an mir vorbeiziehen»; Fabian riecht «nur die Schweisswolke, die er hinterlässt». Doch die Reise gelingt, auch Fabian erreicht Zagreb. Dort lebt er rauschhaft Max’ schönste Lebenszeit nach, und diese Zeit heisst «radost». Das kroatische Wort bedeutet auf Deutsch «Freude».
Frédéric Zwicker: Radost. Roman. Zytglogge-Verlag, Basel 2020, Preis: Fr. 33.90